Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
einzige Möglichkeit, sie hinauszulassen, war durch ihren Mund, indem sie die Fragen stellte, und das wagte sie nicht, also blieben sie drinnen und machten Kyra mit dem Summen verrückt.
Ihre Mutter hatte die Stimme gehoben. Kyra drehte sich ein wenig, um lauschen zu können.
»Was? Wann? Wann hast du das gehört, Donna? O mein Gott. O mein GOTT. Das ist ein verdammter Alptraum, und ich muss darin leben. O mein Gott. Nein. Immer noch dasselbe, Transporter und diese Männer mit den weißen Anzügen, weißt du, wie man sie in Krimis sieht … Dann wird es in den Nachrichten kommen. Ich muss Kyra wegbringen, sie hat ihre Ohren überall, ich will nicht, dass sie das hört. Ich hab nur gesagt, sie wär weg und käme nicht wieder. Ja, allerdings stimmt das … O mein Gott.«
Kyra sah wieder aus dem Fenster. In ihrem Kopf tanzten die Fragen jetzt auf und ab, mit harten kleinen Schritten. Wo war Ed? Warum war sie weg? Warum würde sie nie wiederkommen? Was hatte sie getan? Warum waren die Männer in ihrem Haus? Was, warum, warum, wann, wer, was, warum, warum …
Kyra wollte Ed. Weil ihr niemand sonst die Fragen beantworten würde, alle anderen würden sie ausschließen, würden die summenden Fragen in ihren Kopf zurückschubsen und die Tür zuknallen. Aber Ed antwortete immer. Ed beantwortete jede Frage, wenn auch manchmal nur mit: »Darauf habe ich auch keine Antwort.« Aber irgendwie war das genug. Es war eine Antwort. Ed sagte nie, sei still, frag nicht, hör auf zu nerven, das geht dich nichts an, dazu bist du noch zu klein. Ed redete mit ihr, dachte nach und hörte zu. Und antwortete. Ed erzählte ihr Sachen. Ed wusste viel. Ed. Ed. Ed. Ed.
Aber plötzlich versuchte sie, sich Ed vorzustellen, und da war nichts. Niemand. Ein leerer Fleck. Sie sah aus dem Fenster hinüber zum Haus, starrte und starrte, als wolle sie ein Bild von Ed heraufbeschwören, aber es wollte nicht kommen. Nichts kam. Sie wusste nicht, wie Ed aussah oder klang. Sie konnte Ed nirgends finden.
Sie stieg von ihrem Hocker und lief verängstigt aus dem Zimmer. Das war es, was ihre Mutter gemeint haben musste, dass Ed weg war und nie wiederkommen würde. Ed war sogar aus Kyras Kopf verschwunden, ihr Aussehen, ihre Stimme, ihr Geruch, ihr Lachen. Kyra machte einen Schritt auf die Treppe zu, so voller Angst vor ihrem leeren Zimmer und dem Alleinsein, wie sie es noch nie gewesen war, wollte bei ihrer Mutter sein, sie hören, sehen, trotz ihres Schimpfens und ihrer Gereiztheit.
Natalie kam herauf. Kyra blieb stehen und schaute hinab.
»Was machst du da?«
Kyra schwieg.
»Komm runter, ich muss einkaufen, brauch noch Sachen. Was ist los mit dir, Kyra, um Himmels willen, du siehst aus, als hättest du einen verdammten Geist gesehen.«
Aber das hatte sie nicht. Das war es ja. Sie hatte nichts gesehen.
Ganz langsam, Stufe für Stufe, kam Kyra die Treppe hinunter.
Draußen war jetzt ständig jemand. Kinder. Nachbarn. Leute aus der Siedlung. Sie standen herum, schauten, redeten miteinander, warteten, dass die weißen Anzüge herauskamen, starrten auf das, was sie trugen, folgten ihnen mit den Blicken wieder hinein. Fragen stellten sie lieber keine. Sie standen nur da, warteten, hofften, dass etwas passieren würde, etwas Aufregendes, und dann Fernsehwagen und Männer mit pelzigen Mikrofonen in ihre Straßen kämen.
Natalie zerrte Kyra in das Auto und knallte die Tür so fest zu, dass die Windschutzscheibe klirrte. Kyra sah nicht zu Eds Haus oder zu den Neugierigen, hielt den Blick gesenkt. Sie schwieg.
Natalie murmelte etwas, als sie knirschend den Rückwärtsgang einlegte, wendete, hart schaltete und dann vorwärtsschoss, wobei Kyra scharf gegen den Sitzgurt und zurück gedrückt wurde.
Einmal hatte Ed ihr ein Spiel beigebracht, bei dem man die Augen schloss und eine Farbe nannte und dann in Gedanken ganz, ganz fest versuchte, diese Farbe und nichts anderes zu sehen. Nur Rosa. Nur Grün. Nichts anderes. »Selbst an den Rändern«, hatte Ed gesagt. »Schwarz«, dachte Kyra jetzt und drückte die Augen fest zu, bis sie nur noch Schwarz sehen konnte. Sie schaffte das. Sie hatte es gelernt. Aber für ein paar Sekunden versuchte sie rasch, Ed zu sehen, bevor sich das Schwarz herabsenkte.
»Ed«, sagte sie zu sich. Aber da war keine Ed, selbst an den Rändern nicht.
Sie blieben eine Stunde weg, und als sie zurückkamen, war da ein weiteres Auto, schwarz, parkte vor ihrer Tür. Die Neugierigen behielten es im Auge, während sie gleichzeitig die
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