Der Seele weißes Blut
Er hatte sich ohnehin gefragt, wie die Gebeine eines Kölner Familien-vaters in den Aaper Wald gekommen sein mochten.
»Falls das überhaupt stimmt«, wandte die Frau ein. »Er war nämlich über Nacht plötzlich verschwunden. Einfach so. Als hätte er sich in Luft aufgelöst. Die Frau, wie hieß sie denn bloß noch? Es fällt mir einfach nicht ein. Jedenfalls erzählte sie herum, er hätte ein tolles Angebot angenommen, eine gut bezahlte Arbeit in Australien, und sie würde ihm später mit den Kindern dorthin folgen. Ich habe das nicht so richtig geglaubt. Obwohl sie irgendwann sogar eine Postkarte herumgezeigt hat, die angeblich von ihm stammte.«
»Und? Ist die Familie nach Australien gegangen?«
»Ich weiß nicht. Wir sind ein halbes Jahr später weggezogen. Aber, wenn Sie mich fragen, da war etwas nicht ganz koscher.« Die Stimmen im Hintergrund wurden plötzlich lauter, vermutlich hatte jemand eine Tür geöffnet. »Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte die Frau abrupt. »Meine Gäste brauchen mich.«
»Danke für Ihre Hilfe, Frau Wennig. Ich melde mich bei Ihnen.« Er legte auf und verdrehte die Augen.
Es klopfte, das Greenhorn spähte durch den Türspalt. »Darf ich stören?«
»Komm rein, Mörike.«
Er zog die Tür hinter sich zu. »Ganz schön schummrig hier. Warum hast du das Licht nicht angemacht?«
Lydia lehnte sich zurück und fixierte ihn. »Bist du hergekommen, um dich in meine Privatangelegenheiten einzumischen? Dann kannst du nämlich direkt wieder verschwinden.«
»Natürlich nicht.« Er senkte verlegen den Kopf. »Es geht um diese Sache in Köln. Diesen älteren Fall. Mir fehlen immer noch Name und Adresse dieses Zeugen.«
»Ich dachte, der sei in Urlaub? Das hast du doch gestern bei der Besprechung gesagt.«
Er knetete verlegen die Finger. »Ich weiß. Aber das stimmt nicht. Das habe ich behauptet, weil ich meinen Verdacht noch nicht offiziell aussprechen wollte.«
»Welchen Verdacht?« Lydia setzte sich kerzengerade auf.
»Der Name dieses Zeugen ist aus allen Unterlagen im Zusammenhang mit dem Fall verschwunden. Es ist wie verhext. Die Kollegen in Köln haben keine Erklärung dafür. Der Aktenführer dort sagt, als er das letzte Mal nachgesehen habe, sei alles noch vollständig gewesen. Aber er hat zugegeben, dass er die Akte vor Kurzem einem Kollegen zur Verfügung gestellt habe. Und zwar einem Freund von Chris Salomon. Dem einzigen Freund von Chris Salomon, den es bei der Kölner Kripo noch gibt, wie dieser Aktenführer mir versicherte.«
»Scheiße«, stieß Lydia hervor. Salomon also. Sie hätte es wissen müssen. Er hatte vor zwei Jahren diese arme Frau überfallen, und jetzt hatte er Angst, dass der Zeuge ihn wiedererkennen könnte, wenn der Fall noch einmal aufgerollt würde. Deshalb hatte er ihn aus der Akte verschwinden lassen. Wie dreist von ihm, sie auch noch eigenhändig auf den alten Fall hinzuweisen. Und ihr gleichzeitig eine so herzzerreißende Geschichte zu erzählen, um ihr Urteilsvermögen zu trüben.
»Sie glauben also auch, was ich glaube?« Mörike schien sein Glück kaum fassen zu können. Vermutlich hatte er damit gerechnet, dass Lydia sich empört vor ihren Partner stellen würde.
»Vertraust du mir, Mörike?«
»Klar.«
»Und kannst du die Klappe halten? Auch wenn es ein bisschen brenzlig wird?«
Er blickte sie neugierig an. »Sicherlich.«
Sie erzählte ihm von den mit Flunitrazepam gefüllten Kapseln aus der Asservatenkammer, dann deutete sie auf den Stadtplan und erklärte ihm ihre Theorie mit dem Fisch. Er lauschte fasziniert.
»Es wäre zu gefährlich, eine offizielle Operation in die Wege zu leiten«, sagte Lydia. »Salomon würde davon erfahren. Funksprüche abhören, den Kollegen etwas anmerken. Wir müssen das allein durchziehen. Immerhin haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Da dürfte es ein Leichtes sein, ihn zu überrumpeln.«
»Und du bist wirklich sicher, dass er heute wieder zuschlägt?«
»Das spüre ich mit jeder Faser meines Körpers. Außerdem ist er schon den ganzen Nachmittag unterwegs. Vermutlich trifft er Vorbereitungen, hebt die Grube im Wald aus.«
»Verstehe.«
»Bist du dabei?«
Mörike sah sie an, in seinen Augen blitzte Abenteuerlust auf. »Worauf du dich verlassen kannst.«
Sie fürchtete, dass er sich des Risikos nicht wirklich bewusst war. Ein erfahrener Kollege an ihrer Seite wäre ihr lieber gewesen. Aber das Schicksal hatte ihr den Anfänger vorbeigeschickt, also würde sie mit ihm
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