Der Seele weißes Blut
vorlieb-nehmen müssen. Wer weiß, wozu es gut war. Vermutlich war ihm nicht klar, dass er mit diesem Alleingang ungefähr zwei Dutzend Dienstvorschriften brach und seine Karriere bei der Polizei aufs Spiel setzte, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen.
46
Thomas Hackmann knüllte ein Blatt zusammen und zielte auf den Papierkorb. Das Wurfgeschoss prallte an der Wand ab, landete erst auf dem Rand des Papierkorbs und dann auf dem Boden.
»Drei zu eins«, rief Meier feixend und griff nach dem nächsten Blatt.
»Könnt ihr den Kinderkram mal lassen?«, fragte Schmiedel genervt. »Und wo sind eigentlich die anderen? Ich dachte, wir wollten uns um halb acht treffen.«
Meier zuckte mit den Schultern. »Köster hatte einen Zahnarzttermin, der ist entschuldigt, und Wirtz ist bei einer Zeugin, die von einem mysteriösen Fremden kontaktiert wurde, nachdem sie sich auf einer Selbsthilfe-Website angemeldet und die Geschichte ihres Missbrauchs erzählt hatte. Was mit den anderen ist, weiß ich nicht.«
In dem Augenblick löste Chris sich aus dem Türrahmen.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Hackmann.
»Ihr habt über mich gesprochen? Soll ich noch mal rausgehen, bis ihr fertig seid?« Chris sah mit hochgezogenen Brauen in die Runde. Obwohl er das Gespräch seiner Kollegen mit angehört hatte und wusste, dass sie nicht über ihn gelästert hatten, fiel es ihm schwer, Hackmanns Bemerkung mit Humor zu nehmen. Auf seiner letzten Dienststelle in Köln war er lange genug das Klatschthema Nummer eins gewesen. Nicht gerade seine schönste Zeit bei der Polizei.
Schmiedel winkte gönnerhaft ab. »Nicht nötig. Wir haben uns nur gewundert, wo die anderen stecken.«
Chris sah auf seine Uhr. »Gleich zwanzig vor.«
»Eben.« Meier reckte sich. »Noch fünf Minuten, dann bin ich weg.«
Schmiedel sah Chris an. »Was macht denn unsere Chefin? Du müsstest das doch wissen.«
Vermutlich müsste er das. Aber er hatte sie gegen Mittag das letzte Mal gesehen. Da hatte er sie gefragt, ob sie gemeinsam etwas essen gehen sollten, und sie hatte ihn angesehen, als hätte er eine obszöne Bemerkung gemacht. Daraufhin hatte er es vorgezogen, den Nachmittag nach seinen eigenen Vorstellungen zu verbringen. Mit einem interessanten Ergebnis.
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Ich war unterwegs. Aber ich kann ja mal nachsehen, ob sie im Büro ist.«
Das Klappern von Absätzen ertönte im Korridor und Hackmann grinste. »Madame ist im Anflug. Alle Mann auf ihre Position.«
Niemand beachtete ihn, denn im gleichen Moment kam Ruth Wiechert völlig außer Atem ins Zimmer gestürzt.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, keuchte sie. »Ich war da noch an etwas Wichtigem dran.« Ihr braunes Haar war zerzaust, ihre Wangen hektisch gerötet. Sie sah sich um und stockte. »Wo sind die anderen?«
»Sag du’s uns.« Meier zuckte mit den Achseln. »Heute scheint jeder sein eigenes Ding durchzuziehen.«
Chris musterte sie erstaunt. »An was für einer Sache warst du denn dran?«
»Ist der Anfänger nicht hier?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage.
Chris wurde hellhörig. Hatte sie das Gleiche herausgefunden wie er? »Was ist denn mit ihm?«
»Vielleicht ist es nur ein dämlicher Zufall, aber seltsam ist es schon.«
»Was?«, fragten Meier, Schmiedel und Hackmann wie aus einem Mund.
»Die Therapeutin, diese Kerstin Förster, die hieß mit Mädchennamen Mörike. Ich bin zufällig drauf gestoßen, als ich die Frau routinemäßig überprüft habe.«
»Ja und?«, blaffte Hackmann. »Glaubst du, du hast eine verschollene Cousine von unserem Greenhorn aufgetrieben und jetzt gibt es eine tränenreiche Familienzusammenführung?«
»Lass mich ausreden«, fauchte sie ihn an, plötzlich wütend. »Dir werden deine blöden Sprüche schon vergehen!« Sie sah demonstrativ an ihm vorbei und wandte sich an Chris, als sie weitersprach. »Das hat mich natürlich neugierig gemacht. Also habe ich weiter geforscht. Diese Kerstin Förster hat tatsächlich einen jüngeren Bruder namens Sebastian. Immer noch Zufall?«
»Kann doch sein«, sagte Meier lahm. »Und wenn schon. Was willst du eigentlich damit sagen?«
Wiechert setzte sich auf die Tischplatte und legte den Stapel Blätter, den sie mitgebracht hatte, neben sich. Sie zählte an den Fingern ab. »Also wenn die beiden Geschwister sind, dann ist es erstens merkwürdig, dass diese Förster sich nicht an ihren Bruder wandte, als sie die Polizei kontaktiert hat,
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