Der Seele weißes Blut
einem Kollegen den Jungen, um ihn zu befragen. Jakob fummelte die ganze Zeit mit einer Tüte herum. Ich habe nicht sonderlich darauf geachtet, sondern mich auf das konzentriert, was ich von ihm wissen wollte. Inzwischen bin ich mir sicher, dass es genau die Tüte war, die seine Mutter später bei mir abgegeben hat. Vorhin habe ich mich daran erinnert, dass der Kollege, der mit mir zusammen Jakob befragte, ganz bleich war und den Jungen die ganze Zeit angaffte. Ich dachte, das läge an seiner mangelnden Erfahrung.«
»Der Kollege war Sebastian Mörike«, sagte Chris. »Und du meinst, er hat nicht den Jungen angestarrt, sondern die Tüte, weil er sein eigenes Spielzeug aus Kindertagen erkannt hat.« Der Klumpen in seinem Magen wurde immer kälter und härter.
»Genau«, erwiderte Halverstett. »Sein Spielzeug, das neben den sterblichen Überresten eines im Wald verscharrten Mannes gefunden worden war.«
»Hat Mörike nicht erwähnt, dass er auch aus Köln stammt?«, rief Wiechert aufgeregt. »Was, wenn es sein Vater war, der angeblich nach Australien auswanderte, aber womöglich nie dort ankam?«
»Und das Spielzeug hat die verdrängte Erinnerung ans Licht gezerrt«, sagte Schmiedel.
»Du meinst, er hat seinen eigenen Vater umgebracht und dabei sein Matchbox-Auto verloren? Er muss doch noch ein kleiner Junge gewesen sein.« Meier verzog skeptisch das Gesicht.
Schmitt schaltete sich ein. »Ich denke nicht, dass er der Täter ist. Das können wir meines Erachtens ausschließen. Aber möglicherweise war er dabei. Irgendwer hat seinen Papa erschlagen, und er war Zeuge. Durch den Anblick der Tüte kam alles wieder hoch. Vermutlich hatte er die Erinnerung daran tatsächlich verdrängt. Bei einem besonders traumatischen Erlebnis kann das passieren. Es wird einfach aus dem Gedächtnis gelöscht.«
»Und wie kommt die Tüte zu der Leiche? Musste der Kleine beim Einbuddeln helfen?«, fragte Schmiedel.
»Wer weiß«, sagte Schmitt. »Manche Leute schrecken vor nichts zurück. Vielleicht fand sogar ein richtiges Beerdigungsritual statt, und der kleine Sebastian hat die Tüte bewusst mit ins Grab gelegt.«
Wiechert stöhnte. »Wie grauenhaft! Der arme kleine Kerl. Kein Wunder, dass er total durch den Wind ist.«
Chris räusperte sich. »Ich denke, das ist noch nicht das vollständige Bild. Mörike hat in der Köln-Sache nicht einfach nur geschlampt, weil er durcheinander war oder vor lauter Verwirrung vergessen hat, wie seine eigene Schwester heißt.« Er blickte Halverstett und Schmitt an und erklärte ihnen kurz, was es mit dem alten Fall aus Köln und der Therapeutin Kerstin Förster auf sich hatte. »Da steckt mehr hinter«, sagte er zum Schluss.
»Du bist der Ansicht, dass er etwas vertuschen will?«, fragte Meier. »Und was? Was hat dieser Steinewerfer von Köln mit dem Tod seines Vaters zu tun? Vorausgesetzt, der Tote im Aaper Wald ist sein Vater.«
»Und warum will er nicht, dass wir wissen, dass Kerstin Förster seine Schwester ist?«, fügte Hackmann hinzu.
Schmiedel presste die Lippen zusammen und nickte grimmig. »Weil wir dann wüssten, dass er die Möglichkeit hatte, sich Zugang zu den Patientenakten zu verschaffen.«
»Du glaubst, dass er etwas mit den Morden zu tun hat?« Fassungslos starrte Wiechert ihn an.
»Das würde erklären, wie der Täter Ellen Dankert so schnell finden konnte«, antwortete Schmiedel. »Er hatte Einblick in die Polizeiunterlagen.«
»Aber das ist doch absurd!«, rief Wiechert. »Wieso sollte Mörike Frauen umbringen? Und dazu noch auf diese brutale Art und Weise?«
»Wieso sollte irgendwer Frauen umbringen?«, gab Schmiedel zurück. »Natürlich ist es absurd. Aber jemand hat es getan. Warum also nicht er?«
»Aber er ist doch ein Kollege.«
»Es gibt da noch was, Leute«, begann Hackmann zögernd.
Chris bemerkte, wie er sich wand. Es fiel ihm sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. »Ich habe Mörike letzte Woche abends in Louis’ Haus gehen sehen. Er ist mir aufgefallen, weil er sich so verstohlen umguckte, als wollte er nicht gesehen werden. Ich dachte, die Louis hätte sich einen jugendlichen Loverboy zugelegt, aber vielleicht wusste sie ja gar nichts von seinem Besuch.«
Chris musterte Hackmann mit zusammengekniffenen Augen. Er hätte ihn gern gefragt, was er eigentlich vor Lydias Haus zu suchen gehabt hatte, aber das war im Augenblick irrelevant. Er beschloss jedoch, in Zukunft ein noch schärferes Auge auf Hackmann zu haben. Der Kerl spionierte Lydia
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