Der Seele weißes Blut
der schweren Verletzungen im Kieferbereich beschleunigt worden. Maren Lahnstein hatte die Todeszeit auf etwa vier bis fünf Uhr morgens geschätzt. Die Frau war kerngesund gewesen und hatte keine besonderen Merkmale aufgewiesen, die bei der Identifizierung hilfreich sein könnten. Die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung standen noch aus. Lydia nahm an, dass der Täter sie betäubt hatte, bevor er sie fesselte und eingrub. Maren Lahnstein hatte auch bereits einen Hinweis darauf entdeckt, als sie die Leiche aufgeschnitten hatte. Der Magen war blau verfärbt gewesen, ein Indiz für Flunitrazepam, die so genannte Vergewaltigungsdroge, oder besser gesagt, für den blauen Farbstoff, der den Pillen seit einigen Jahren beigemengt wurde, um zu verhindern, dass sie unbemerkt in Getränke gegeben werden konnten. Ansonsten gab es nicht viel. Das Waldstück hatte keine weiteren Spuren preisgegeben, der zuständige Förster hatte mit der Schnitzerei im Baum nichts anfangen können, und sie selbst hatten bisher keine zündende Idee dazu.
Salomon trank den Kaffee aus. »Sollen wir wieder hochgehen?«
Lydia nickte.
Im Foyer ergriff er plötzlich ihren Arm. »Ich habe gehört, was mit Decker passiert ist, deinem ehemaligen Partner«, sagte er. »Es tut mir leid. Diese Krankheit ist ein brutales, alles verschlingendes Monster. Ich weiß, wovon ich rede. Meine Mutter ist auch an Krebs gestorben.«
Bevor Lydia antworten konnte, sprang er in den Paternoster und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Kriminalhauptkommissar Klaus Halverstett schob die Fotos auf seinem Schreibtisch zusammen. Ein flaches Grab im Laubwald, bleiche, erdverkrustete Knochen, kein Schädel, dafür ein schmaler goldener Ring. Über zwei Wochen war es jetzt her, dass ein kleiner Junge die Gebeine eines Unbekannten im Aaper Wald gefunden hatte, und bisher wussten sie nicht mehr als am ersten Tag. Sie hatten ein unvollständiges Skelett und eine erste Vermutung der Rechtsmedizinerin, dass die Knochen wohl schon Jahrzehnte dort lagen. Deshalb hatten sie noch nicht sehr viel in der Sache unternommen und zunächst die Ermittlungen zu einem anderen Fall beendet. Eine ziemlich grässliche Geschichte: Eine gerade zwanzigjährige Frau, die ihre Großtante für ein bisschen Schmuck und ein Sparkonto mit dem Kopfkissen erstickt hatte. Gestern hatte sie mit versteinertem Gesicht gestanden. Halverstett hatte den Bericht fertig gestellt und war die wenigen hundert Meter vom Polizeipräsidium zum Rheinufer gelaufen, um sich den Kopf durchpusten zu lassen und so die Abscheu vor der Kaltblütigkeit der Täterin loszuwerden. Mit mäßigem Erfolg.
Heute Morgen wollten er und seine Kollegin Rita Schmitt sich nun endlich mit vollem Einsatz den Gebeinen widmen. Auch ein so alter Fall war wichtig. Selbst wenn dieser Mensch schon seit Jahrzehnten nicht mehr lebte, sein Mörder vielleicht inzwischen ebenfalls gestorben war – sofern es sich überhaupt um Mord handelte –, gab es womöglich irgendwo Angehörige, die ebenso lange auf Gewissheit warteten.
Halverstett schob die Fotos zurück in die Akte und griff nach dem Telefonhörer. Zeit, der Rechtsmedizin ein wenig Dampf zu machen. Und eine gute Gelegenheit, Maren Lahnstein zu treffen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
8
Donnerstag, 10. September
»Frau Louis, setzen Sie sich doch. Wie geht es Ihnen?«
»Ganz okay.«
»Gibt es etwas, worüber Sie reden möchten?«
»Weiß nicht.«
»Wie läuft die Arbeit?«
»Macht Stress wie immer.«
»Was für Stress?«
»Na ja, ein neuer Mordfall.« Schweigen. »Eine Frau, die bis zum Hals eingegraben und gesteinigt wurde.«
»Wie entsetzlich.«
Schulterzucken. »Ist mein Job.«
»Der Tod der Frau berührt Sie nicht?«
»Ehrlich gesagt hat er mich wütend gemacht. Sie hatte nicht einmal Abwehrverletzungen. Die Rechtsmedizinerin hat jeden Zentimeter Haut unter die Lupe genommen. Nichts. Nicht der winzigste Kratzer. Wie kann man sich das einfach so gefallen lassen?« Pause. »Ich will nicht darüber reden. Davon wird meine Laune nur noch schlechter.«
»Sie haben schlechte Laune?«
Keine Antwort.
»Möchten Sie mir erzählen, was Sie so ärgert?«
»Weiß nicht.«
»Sie entscheiden, worüber wir sprechen.«
»Ich habe einen neuen Partner.«
»Den älteren Kollegen, mit dem Sie gern zusammenarbeiten wollten?«
»Wo kämen wir denn da hin? Natürlich musste mein Chef mir seine Macht demonstrieren. Er hat mir irgend so einen Schnösel zugeteilt.«
»Einen Schnösel?«
»Einen
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