Der Seele weißes Blut
wovon du redest, Philipp«, sagte sie kaum hörbar. »Was für ein Geheimnis?«
Sie sah den Schlag nicht kommen. Er rammte ihr seine Faust von der Seite ins Gesicht. Der Aufprall raubte ihr den Atem. Sie schnappte nach Luft. Dann überrollte sie der Schmerz. Instinktiv hob sie die Hände, doch der nächste Angriff kam von hinten. Er fasste sie im Nacken und ließ ihr Gesicht auf den Couchtisch knallen. Ellen sah so etwas wie einen elektrischen Blitz, irgendwo in ihrer Nase knirschte es.
»Philipp«, wimmerte sie, doch die Worte waren nicht mehr als ein unverständliches Gurgeln. Ihr Gesicht war ein Meer aus Schmerzen. Angsterfüllt sah sie sich um. Sie konnte kaum etwas erkennen. Alles war verschwommen, und sie schaffte es nicht, ihr rechtes Auge zu öffnen. Sie musste weg. Sofort. Wenn sie ihm nicht entkam, würde er sie totschlagen. Da hörte sie wieder Philipps Stimme hinter sich, ganz nah an ihrem Ohr.
»Willst du es mir vielleicht jetzt erzählen?«
Vor ihr auf dem Tisch stand die Weinflasche. Sie nickte stumm.
»Gut so«, sagte Philipp. »Braves Mädchen.«
Sie griff nach der Flasche und schleuderte den Arm nach hinten. Dummerweise wusste sie nicht genau, wo Philipp stand. Doch offenbar hatte sie ihn getroffen. Glas klirrte. Er stöhnte. Wie gelähmt saß sie im Sessel, den Flaschenhals noch in der Hand, und horchte. Sie wusste, sie musste aufstehen und wegrennen. Es war ihr einziger Ausweg. Aber es war, als wäre sie festgeschnallt. Hinter ihr ertönte ein tierisches Heulen. Philipp. Todesangst ergriff sie, löste ihre unsichtbaren Fesseln. Sie sprang hoch und stolperte auf die Wohnzimmertür zu, durch den Flur und hinaus in den Vorgarten.
Dunkelheit umfing sie. Die Straßenlaternen verbreiteten ein milchiges Licht, das kaum ausreichte, das Pflaster zu erhellen. Kopflos stürzte sie die Straße hinunter. Warmes Blut rann in den Ausschnitt ihrer Bluse, auf ihrer Zunge spürte sie ein ausgeschlagenes Stück Zahn. Ihr Auge brannte, ihre rechte Seite stach bei jedem Atemzug.
Zu spät merkte sie, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Sie hatte bereits die letzten Wohnhäuser passiert, und vor ihr türmte sich der Wald auf wie eine schwarze Wand. Sie wusste nicht, ob Philipp bereits hinter ihr war, und sie wagte nicht, sich umzudrehen. Panisch rannte sie weiter, mitten hinein in die Finsternis.
Plötzlich tauchte aus dem Nichts eine Gestalt vor ihr auf. Entsetzt blieb sie stehen. Doch es war nicht Philipp. Es war ein fremder Mann. Sie konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen, aber er sah freundlich aus.
»Du meine Güte!«, rief der Fremde. »Sind Sie überfallen worden?«
»Helfen Sie mir«, flüsterte Ellen und streckte die Hände nach ihm aus.
»Kommen Sie mit«, sagte der Mann sanft. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Bei mir sind Sie in Sicherheit.«
Er griff nach ihrem Arm und führte sie behutsam fort. Ellen war so erleichtert, dass sie sich nicht darüber wunderte, dass der Fremde direkt auf den Wald zuging.
12
Sommer 1984
Das Wasser schießt in einem fetten glitzernden Strahl in die Wanne. Schaumberge türmen sich auf der Wasseroberfläche. Eine Mondlandschaft. Im Kindergarten hat Saskia ihm erzählt, dass es auf dem Mond lauter weiße Berge gibt. Vielleicht hat sie ihn angelogen. Er könnte Kerstin fragen, aber dann lacht sie ihn bestimmt wieder aus.
Mama und Kerstin kommen ins Bad. Kerstin zieht ihn aus. Wenn sie im Kindergarten turnen, sagt Fräulein Markus immer, er solle sich selbst ausziehen, aber irgendwie verheddert er sich jedes Mal in seinem Pullover.
»Ärmchen hoch«, ruft Kerstin.
Er gehorcht, und flutsch ist der Pulli über den Kopf gerutscht. Als er nackt ist, patscht sie ihm auf den Po. »Husch, ab ins Wasser!«
Er darf ein bisschen spielen. Er hat zwei Boote, ein kleines rotes und ein großes weißes, das fast echt aussieht. Sogar ein kleiner Mann sitzt am Steuer. Er lässt die Boote durch die Schaumberge sausen. Sie sind jetzt keine Mondlandschaft mehr, sondern Eisberge im Meer. Die Boote haben Superkräfte und können durch die Eisberge hindurchflitzen.
Viel zu früh sagt Mama: »Das reicht. Jetzt wirst du gewaschen.«
Erst sind die Haare dran. Er hasst Haare waschen. Er darf einen Lappen vor das Gesicht halten, aber trotzdem läuft ihm jedes Mal das brennende Zeug in die Augen. Danach muss er aufstehen, und Mama und Kerstin schrubben ihn. Sie reiben seinen ganzen Körper gründlich ab. Als Mama sein Schniepelchen wäscht, muss er Pipi.
Mama
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