Der Seele weißes Blut
interessiert, Louis?«
»Wir haben auch eine Leiche im Wald, die gar nicht so weit weg von deinen Gebeinen gefunden wurde. Das weißt du doch sicher?«
»Und du glaubst an einen Zusammenhang? Ich dachte, dein Fall sei ein Ehrenmord?«
Lydia schüttelte den Kopf. »Sieht nicht so aus.«
Halverstett drehte geistesabwesend die Tüte in seiner Hand. Bisher hatte er nur daran gedacht, dass der Mörder womöglich inzwischen fortgezogen war, in eine andere Stadt, in ein anderes Bundesland, vielleicht sogar ins Ausland. Oder dass er längst gestorben war, ohne für seine Tat zu sühnen. Dass er weitere Morde begangen haben könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Außerdem war ja nicht einmal sicher, dass der unbekannte Tote überhaupt einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Die Knochen hatten keine Spuren von Gewalteinwirkung aufgewiesen. Insgeheim hatte Halverstett sich gewünscht, dass es ein erfrorener Stadtstreicher war, den bisher niemand gefunden hatte, weil das Laub vieler Herbste seine Gebeine zugedeckt hatte. Oder sonst jemand, den einfach zufällig im Wald der Tod ereilt hatte. Doch er wusste, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Gewaltverbrechen ausgehen mussten. Vor allem, weil die Knochen nicht einfach unter dem Laub verborgen, sondern mit einer dreißig Zentimeter dicken Erdschicht bedeckt gewesen waren.
»Unser einziger Hinweis ist das hier.« Er reichte ihr die Tüte. »Ein Ehering, so wie es aussieht. Wurde in der Nähe des Fundortes entdeckt.«
Lydia begutachtete das Schmuckstück. »Unsere Leiche trug einen einzelnen Ohrring«, sagte sie. Sie runzelte die Stirn. »Da ist was eingraviert.«
»Ich weiß. Ein Name und ein Datum. ›Wolf 17.3.1972‹.«
»Dann ist er von der Ehefrau.«
Halverstett nickte. So weit war er auch schon. »Es wird aber im gesamten Rheinland keine Frau vermisst, die mit einem Wolf verheiratet ist oder war. Und ein Mann dieses Namens auch nicht.« Er nahm das Tütchen wieder an sich, das Lydia ihm reichte. »Außerdem lag der Ring nicht unmittelbar bei den Knochen. Möglicherweise hat er gar nichts mit ihnen zu tun.«
»Okay.« Lydia stand auf. Noch immer vermied sie es, ihn anzusehen. Es kam ihm fast so vor, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Und das rührte wohl kaum daher, dass sie soeben einem Kollegen Informationen zu einer Ermittlung entlockt hatte, die dieser ihr eigentlich nicht hätte geben dürfen. Er erhob sich ebenfalls.
»Ich halte dich auf dem Laufenden, Louis.« Er hielt ihr die Tür auf. »Und sieh zu, dass du ein bisschen mehr Schlaf bekommst.«
Sie war schon auf dem Korridor, hatte ihm den Rücken zugewandt. Er sah, wie ihre Schultern sich bei seinen Worten versteiften. Sekundenlang stand sie reglos da, dann entspannte sich ihr Körper. Sie hob die Hand zu einem kurzen Gruß und marschierte davon.
Nachdenklich blickte er ihr hinterher. Nicht das, was sie gesagt hatte, irritierte ihn, sondern das, was sie ihm offensichtlich verschwiegen hatte.
Lydia betrat den Besprechungsraum absichtlich als Letzte. Sie hatte drei Kopfschmerztabletten genommen, trotzdem war von dem Pochen, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war, ein dumpfes Brummen zurückgeblieben, das sich nicht vertreiben ließ. Ihr Magen brannte, sie hatte noch nicht gefrühstückt, hatte schon bei dem Gedanken an Essen würgen müssen. Sie wusste, dass sie das nicht mehr lange durchhalten würde, die schlaflosen Nächte, der Alkohol und der schnelle Sex mit einem Unbekannten, im Auto oder in einem billigen Hotelzimmer. Gestern hatte es nicht einmal mehr dafür gereicht. Der Typ mit der Schlangentätowierung war ihr auf die Damentoilette gefolgt. Das Ganze hatte nicht mehr als drei oder vier Minuten gedauert. Danach hatte sie sich durch den Hinterausgang verdrückt. An der Straßenecke hatte sie sich in den Rinnstein erbrochen. Gegen halb zwölf war sie zu Hause angekommen, aber an Schlaf war nicht zu denken gewesen. Also hatte sie die Whiskyflasche aus dem Schrank geholt und die Musik laut gestellt.
Sechs Kollegen blickten sie erwartungsvoll an, als sie die Tür schloss, lediglich Salomon stierte ins Leere und wirkte abwesend, was ihr unter den gegebenen Umständen ganz lieb war. Sie hatte das ungute Gefühl, dass er sie viel zu häufig durchschaute. Lydia ließ sich auf den Stuhl fallen. Sie wollte es kurz machen, viel hatten sie sowieso nicht zu besprechen. Mit wenigen Worten fasste sie zusammen, wo sie im Augenblick standen, erwähnte dabei auch Halverstetts Gebeine und
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