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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Klewe
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erkannte Lydia ein Schild aus Ton, das dem der Familie Dankert ähnelte: »Hier wohnen Stefanie, Christopher und Anna Salomon«.
    Lydia blieb abrupt stehen. »Ich wusste gar nicht, dass du Frau und Kind hast.« Am liebsten wäre sie sofort zurück zum Wagen gelaufen. Das Letzte, worauf sie Lust hatte, war ein netter Abend im Kreis von Salomons Familie.
    »Es ist niemand da, keine Sorge«, antwortete er. Seine Stimme klang merkwürdig rau. Lydia fiel ein, dass Köster irgendetwas von einem schweren Schicksalsschlag angedeutet hatte. Also doch die weggelaufene Ehefrau, ganz wie sie vermutet hatte. Und die gemeinsame Tochter hatte sie gleich mitgenommen. Nicht schön, aber doch ziemlich banal.
    Im Inneren roch es abgestanden. Chris ging voran in ein Wohnzimmer mit einer großen Fensterfront, die den Blick in den Garten freigab. Wegen der Dunkelheit war nicht viel zu sehen, doch Lydia fiel auf, dass der Garten recht verwildert aussah. Der Rasen stand fast kniehoch, die Blumenbeete waren kaum noch als solche zu erkennen. Das Gärtnern hatte offenbar zum Aufgabenbereich von Salomons Frau gehört.
    »Möchtest du etwas trinken? Bier? Wein? Irgendwas anderes?« Salomon war im Türrahmen stehen geblieben.
    »Ein Bier, bitte.«
    Er verschwand und kehrte kurz darauf mit zwei Flaschen Kölsch zurück. »Ich hoffe, du bist keine so eingefleischte Lokalpatriotin, dass du das hier nicht trinkst.« Er hob fragend die Augenbrauen.
    »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.« Sie nahm einen tiefen Schluck. Als sie die Flasche absetzte, entdeckte sie ein Bild über dem Sofa gegenüber der Fensterfront. Es war ein überlebensgroßes Foto in einem schwarzen Holzrahmen und zeigte das Gesicht eines Mädchens, das fröhlich in die Kamera lachte. Sie hatte dunkle, schulterlange Locken und riesige strahlende Augen. Zwei Grübchen und eine Zahnlücke verliehen ihrem Lachen etwas Schelmisches. Ihr Gesicht glich dem ihres Vaters, nur die Augen waren nicht braun, sondern blau. »Deine Tochter?«
    »Anna.«
    »Wie alt ist sie?«
    Salomon räusperte sich. »Als das Bild gemacht wurde, war sie fünf. Das ist drei Jahre her.« Er setzte sich auf das Sofa und vergrub das Gesicht in den Händen. Minutenlang schwieg er. Lydia hörte, wie irgendwo im Haus der Kühlschrank ansprang. Plötzlich fing Salomon an zu sprechen. Die Worte sprudelten aus ihm heraus, als hätte jemand eine innere Schleuse geöffnet. Lydia lauschte schweigend, während die Bierflasche in ihrer Hand langsam warm wurde.
    »Wir waren in den Niederlanden im Urlaub. Zeeland. Da waren wir jedes Jahr, oft sogar mehrfach. Wir hatten bereits überlegt, uns dort ein Häuschen zu kaufen. Anna liebte das Meer, sie konnte stundenlang am Strand Burgen und Wälle bauen. Sie war ein fröhliches Kind. Immer aktiv. Und immer schmutzig. Stefanie sagte oft im Scherz, sie hätte eigentlich als Junge auf die Welt kommen sollen, aber irgendetwas wäre bei der Herstellung schiefgegangen. Eines Mittags waren wir am Strand, wo Anna eine gigantische Landschaft aus Sand und Muscheln baute. Stefanie wollte Eis holen, und Anna war so versunken, dass wir sie mehrmals fragen mussten, was für ein Eis sie haben wolle. Es war ein wunderbarer, vollkommener Tag. Der Himmel strahlend blau, kein Wölkchen weit und breit. Ich blieb bei Anna, blickte Stefanie hinterher, wie sie den Deich hinaufstieg, und hielt mich für den glücklichsten Mann der Welt. Es dauerte vielleicht drei oder vier Minuten, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden war. Fünf höchstens.« Er schwieg, starrte auf seine Finger. »Als ich mich umdrehte, war Anna weg. Ich dachte, sie sei vielleicht zum Wasser gelaufen, um mehr Muscheln zu suchen. Wir hatten ihr zwar verboten, allein ans Meer zu gehen, aber du weißt ja, wie Kinder sind. Ich hielt nach ihr Ausschau. Ich war sicher, dass ich sie früher oder später zwischen den anderen spielenden Kindern entdecken würde. Aber sie war nirgends zu sehen. Ich lief am Strand auf und ab und rief ihren Namen. Andere Leute, die durch mein Rufen aufmerksam geworden waren, halfen mir suchen. Dann kam Stefanie zurück, drei Eis in der Hand. Ihren Blick werde ich nie vergessen. Wir suchten über eine Stunde. Jemand benachrichtigte die Polizei und die Küstenwache, die mit Booten das Ufer abfuhr. Die Suche dauerte bis zum Einbruch der Dunkelheit. Keine Spur von Anna.« Chris hob den Blick, seine Augen schimmerten feucht. »Bis heute nicht.«
    »Sie ist nicht wieder aufgetaucht?«, fragte Lydia

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