Der Seele weißes Blut
herauskam.
»Bitte«, sagte Chris. »Nur für drei oder vier Tage. Wenn wir bis dahin keinen Durchbruch erlangt haben, bringe ich die Akte ins Spiel. Niemand wird erfahren, dass du sie bereits kanntest.«
Lydia setzte sich wieder. Sie mied Salomons Blick. Stattdessen schnappte sie sich die Mappe und überflog den Inhalt: die Angaben des Opfers, die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung, die mehr als dürftig waren. Ein paar Informationen waren handschriftlich an den Rand gekrakelt, und von der Aussage des Mannes, der der jungen Frau geholfen hatte, fehlte die letzte Seite. »Die ist ja nicht mal vollständig. Viel Mühe haben die sich offenbar nicht gegeben, den Täter zu finden«, stellte sie fest.
»Es war eben nichts wirklich Schlimmes passiert«, sagte Chris. »Und es gab zu dem Zeitpunkt einfach wichtigere Fälle.«
»Wenn wir beschließen, das hier keinem zu zeigen, dann können wir es offiziell nicht in die Ermittlungen mit einbeziehen. Das ist dir ja wohl klar.«
Chris nickte.
»Wer weiß, dass du dir die Akte geholt hast?«
»Nur ein guter Freund. Einer, der damals mit an dem Fall gearbeitet hat. Er ist absolut zuverlässig.«
Es war halb eins, als Lydia die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss. Sie war todmüde und wollte nur noch ins Bett. Salomon hatte versucht, sie dazu zu bewegen, im Gästezimmer zu übernachten, aber das kam für sie nicht infrage. Er hatte sich schon viel zu sehr in ihr Leben gedrängt, sie war stinksauer, fühlte sich benutzt. Trotzdem hatte sie zugestimmt, über den alten Fall aus Köln vorerst kein Wort zu verlieren. Genau drei Tage lang. Danach würde Salomon die Akte offiziell präsentieren. Sie hatte keine Ahnung, wozu er diese Frist brauchte, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass es die richtige Entscheidung war, und meistens tat sie gut daran, sich auf ihren Instinkt zu verlassen.
Lydia trat in den dunklen Flur ihrer Wohnung und drückte die Tür zu. Einen Augenblick lang blieb sie stehen, atmete den vertrauten Geruch ein, horchte in die Stille. Ihr Zuhause war der einzige Ort, an dem sie sich erlaubte, ganz sie selbst zu sein, ohne Zwänge, ohne Verstellen und Versteckspiel. Es war der einzige Ort, der ihr ganz allein gehörte. Ihre Zuflucht.
Als sie den Schlüssel auf der Kommode ablegte, sah sie auf dem Boden etwas Weißes. Ein Stück Papier. Automatisch bückte sie sich danach, dann schaltete sie das Licht an. Es war ein kleiner Notizzettel, der offenbar nass geworden war. Von dem, was einmal darauf gestanden hatte, waren nur noch drei Buchstaben, ›L‹, ›Y‹ und ›O‹, sowie die Ziffer 4 zu erkennen. Lydia runzelte die Stirn, dann lief es ihr plötzlich eiskalt über den Rücken. Es könnte der Teil sein, der von ihrer Anschrift übrig geblieben war: Lydia Louis, Bilker Allee 49. Ein Zettel mit ihrer Adresse in ihrer eigenen Wohnung. Wie auch immer er dahin gekommen war, sie hatte ihn bestimmt nicht dort verloren. Verdammt! Sie zog ihre Dienstwaffe aus dem Holster und entsicherte sie. Lautlos schlich sie ins Wohnzimmer. Alles schien wie immer. Sie drückte auf den Lichtschalter. Der Raum sah aus, wie sie ihn verlassen hatte. Aufmerksam ließ sie ihren Blick über die Regale mit den Schallplatten schweifen, die alte Stereoanlage ihres Vaters, das schwarze Ledersofa. Auf dem Schreibtisch stand ihr Laptop. Vorsichtig trat sie näher und legte die Hand auf das Gehäuse. Es war warm.
Erschrocken zog Lydia die Hand zurück. Du mieses Stück Dreck, dich erwische ich, dachte sie. Es waren fünf Schritte bis zur Schlafzimmertür. Aufstoßen, Licht an. Nichts. Der Schrank. Wieder nichts. Sie lief zum Bad und zum Schluss in die Küche. Doch es war niemand in der Wohnung. Zurück im Flur schloss sie die Tür ab und legte die Kette vor, danach ging sie noch einmal langsam alle Zimmer ab. In der Teedose in der Küche lagen unangetastet die dreihundert Euro, die sie dort deponiert hatte, auch ihr Schmuck war an seinem Platz. Sie entdeckte, dass die untere Schublade ihrer Schlafzimmerkommode ein wenig aufstand. Sie hatte sie seit Wochen nicht angerührt, sie bewahrte darin alte Fotos und ein paar Ansichtskarten und Briefe auf, von denen sie sich nicht trennen konnte.
Nachdenklich setzte Lydia sich aufs Bett, legte die Walther P 99 aufs Kopfkissen und massierte sich die Schläfen. Jemand war in ihrer Wohnung gewesen. Was hatte er gewollt? Ein gewöhnlicher Einbrecher war es jedenfalls nicht. Der hätte sich das Bargeld und den Laptop geschnappt und wäre verschwunden.
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