Der Seele weißes Blut
Blick auf den Tatort zu erhaschen. Fotohandys blitzten, irgendwer hielt eine Videokamera ins Geschehen. Dieser Tatort war ganz anders als die Lichtung im Wald. Die hatten sie für sich allein gehabt, hier mussten sie unter den neugierigen Augen der Öffentlichkeit ermitteln. Chris hasste Gaffer. Für die meisten von ihnen war dies hier nichts anderes als ein besonders lebensnahes Fernsehprogramm.
Lydia marschierte auf einen Streifenbeamten zu, der neben dem Absperrband stand, und zeigte auf den Mann mit der Kamera. »Sorgen Sie dafür, dass wir den Film kriegen«, forderte sie ihn auf.
Sie betraten den Park, der auf den ersten Blick still und beschaulich im Zwielicht lag. Der uralte Baumbestand und der kleine Teich in der Mitte des Geländes wirkten beinahe friedvoll, wären nicht die weißen Gestalten der Spurensicherung gewesen, die wie die Bewohner eines anderen Planeten über den Rasen streiften und in den Gebüschen herumstocherten. Unter einer ausladenden Eibe mit dunkelgrün glänzenden Nadeln konzentrierte sich das emsige Treiben. Offenbar lag dort die Tote. Chris hob den Blick und sah sich um. Links waren die Balkone eines Wohnhauses an der Brehmstraße deutlich zu erkennen, auch hinter ihnen auf der Graf-Recke-Straße sah man die Häuserfronten durch das gelb-bräunliche Laub der mächtigen Kastanien. Unvorstellbar, dass niemand etwas gesehen hatte.
Maren Lahnstein kam ihnen auf einem der Spazierwege entgegen. Sie blieben stehen.
»Und?«, fragte Lydia. »Ist es der gleiche Täter?«
Die Ärztin zuckte mit den Schultern. »Ich denke schon. Ein Trittbrettfahrer kann es ja eigentlich nicht sein, da wir die Öffentlichkeit nicht über die Todesart von Kristina Keller informiert haben. Allerdings ist diesmal einiges anders.«
»Und was?« Chris blickte über Maren Lahnsteins Schulter hinweg in Richtung Tatort.
»Sie war nur bis zur Hüfte eingegraben. Der Täter hat sich wohl verschätzt, was die Beschaffenheit des Bodens angeht. Sie liegt unter einer großen Eibe. Der gesamte Untergrund ist voller Wurzeln, außerdem ist die Erde steinhart.«
»Was noch?«, wollte Lydia wissen.
»Die Frau war geknebelt. Vermutlich, damit niemand sie schreien hört. Und sie hat eine ganze Reihe Hämatome am Oberkörper, die meiner Einschätzung nach nicht von den Steinen stammen. Ein Finger scheint gebrochen zu sein. Außerdem hat sie einige ältere Narben.«
»Also wurde sie vor der Steinigung misshandelt?« Chris sah die Ärztin fragend an.
»Ich möchte vor der Obduktion nichts Endgültiges sagen, zumal auch schon ein paar Tiere an der Leiche waren, aber die Verletzungen am Oberkörper scheinen mindestens zwei oder drei Tage alt zu sein. Und die Narben …« Sie zog die Augenbrauen hoch.
Lydia runzelte die Stirn. »Also hat der Täter sie vorher gefangen gehalten oder …«
»… oder wir haben es mit zwei Tätern zu tun«, ergänzte Chris.
Sie verabschiedeten sich von der Ärztin, die gleich am nächsten Morgen mit der Obduktion beginnen wollte, und besahen sich die Leiche, die bereits ausgegraben war. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Bisher war die Frau nicht identifiziert. Chris nahm den geschundenen Körper in Augenschein. Ein riesiger blaugrüner Fleck zog sich über die rechte Hüfte bis hoch zu den Rippen. Auch die Arme waren blaugrün verfärbt. Der rechte Zeigefinger stand in einem merkwürdigen Winkel von der Hand ab. Chris schluckte. In seinem Inneren kämpften Mitgefühl und Professionalität miteinander. Er versuchte Details zu sehen, die bei der Ermittlung hilfreich sein könnten, und trotzdem die Frau wahrzunehmen, der man dieses unsägliche Leid zugefügt hatte. Er wusste, dass es gefährlich war, die Toten zu nah an sich heranzulassen, doch auf eine andere Art konnte er seine Arbeit nicht ausüben. An erster Stelle stand die Menschlichkeit. Und die endete nicht mit dem Tod. Sein Blick streifte die dunkelblonden Haare, die an dem blutigen Schädel klebten, und er stutzte. Die Frau hatte einen Pferdeschwanz getragen, das Gummi hing noch schief im Haar.
»Verfluchte Scheiße«, murmelte er.
»Was ist?« Lydia, die ebenfalls schweigend die Tote betrachtet hatte, sah ihn fragend an.
»Das Haargummi. Es ist ausgeleiert. Da gucken rote Fasern unter dem schwarzen Obermaterial hervor.«
Lydia legte den Kopf schief. »Aha.«
»Ich habe dieses Gummi schon einmal gesehen. Es ist mir aufgefallen, weil es ebenso wie die Frau, die es trug, deplatziert wirkte in dem piekfeinen
Weitere Kostenlose Bücher