Der Seele weißes Blut
leise.
Er schüttelte den Kopf. »Als hätte das Meer sie verschlungen. Sie ist einfach verschwunden. Die Polizei in den Niederlanden geht davon aus, dass sie zum Wasser gelaufen und ertrunken ist.«
»Du glaubst das nicht?«
»Es war ein windstiller, sonniger Tag. Das Meer war ruhig. Das Wasser flach. Ich habe sie nur wenige Minuten aus den Augen gelassen. Sie hätte zum Wasser rennen und sofort ganz weit hinauswaten müssen. Und das, obwohl sie genau wusste, wie gefährlich das ist. Außerdem hat niemand sie in der Nähe des Wassers gesehen.«
Lydia ließ sich auf dem Sessel nieder, der seitlich von dem Sofa stand, auf dem Chris saß. Ihr war schwindelig. Eine Mischung aus Scham und Wut brodelte in ihr. Scham, weil sie Salomon so falsch eingeschätzt hatte, Wut, weil er sie ungefragt in sein Privatleben zog, sie mit seinem Kummer belastete. Sie wollte diese Vertrautheit nicht. Aber es war bereits zu spät.
»Und was, glaubst du, ist passiert?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht.« Er nahm einen Schluck Bier und drehte die Flasche zwischen den Händen. »Vielleicht ist sie entführt worden.«
»Hätte sie nicht geschrien? Sich gewehrt?«
Er seufzte. »Es könnte doch sein, dass sie sich verlaufen hat. Es war sehr voll am Strand. Sie ist zu weit in eine Richtung gelaufen und wusste nicht mehr, wie sie zu uns zurückfinden sollte. Irgend so ein Perverser sieht sie verloren am Strand stehen und wittert seine Chance. Er verspricht ihr, sie zu ihren Eltern zurückzubringen.«
»Wäre dir das lieber, als wenn sie ertrunken wäre?«
Chris starrte sie an. Kurz flackerte Zorn in seinen Augen auf, dann senkte er den Blick. »Es ist vielleicht egoistisch von mir, aber mir wäre fast alles lieber, wenn es bedeuten würde, dass sie noch lebt, dass ich sie eines Tages wiederbekomme.« Er stockte. »Aber natürlich möchte ich nicht, dass sie in der Gewalt eines Irren ist, der sie seit drei Jahren quält.« Er schluchzte auf, es klang fast wie der Laut eines gequälten Tieres, und erhob sich vom Sofa. Mit dem Rücken zu Lydia blieb er vor dem Fenster stehen. »Es tut mir leid, Louis, ich hatte nicht vor, dich mit meiner Geschichte zu behelligen. Ich hätte wissen müssen, dass das passiert, wenn ich dich mit hierher nehme. Vermutlich habe ich das auch und es billigend in Kauf genommen. Bitte entschuldige.«
»Schon okay.« Sie nahm den letzten Schluck Bier.
Chris trat zu ihr und streckte die Hand aus. »Noch eins?«
»Ich sollte nicht, ich muss noch fahren.« Am liebsten hätte sie einen doppelten Whisky getrunken.
»Ich habe jede Menge ungenutzte Zimmer hier. Du musst heute nicht mehr nach Hause, wenn du nicht willst.«
Lydias Rücken versteifte sich. »Das halte ich für keine gute Idee.«
»Du kannst dich einschließen. Und ich verspreche, dass ich niemandem davon erzähle. Außerdem kannst du mich morgen früh einen Block vor dem Präsidium absetzen, damit niemand uns zusammen ankommen sieht. Ist das ein Angebot?«
Wider Willen musste sie lächeln. »Ich denke darüber nach.«
Chris holte zwei weitere Flaschen Bier, und eine Weile tranken sie schweigend.
»Was ist mit deiner Frau?«, fragte Lydia schließlich.
»Am Anfang sind wir gemeinsam jedes Wochenende nach Holland gefahren, um Anna zu suchen. Wir haben Plakate aufgehängt, Restaurantangestellte und Hotelpersonal befragt, haben an den Häfen die Bootsbesitzer abgeklappert. Nichts. Irgendwann kam Stefanie nicht mehr mit. Dafür war ich umso besessener, habe mich oft sogar abends nach Dienstschluss noch auf den Weg gemacht. Die Fahrt dauert ja nur gut drei Stunden. Ich bin dann am nächsten Tag vollkommen übermüdet zur Arbeit erschienen. Das ging natürlich nicht lange gut. Ich begann, Fehler zu machen. Eines Tages habe ich bei einem Einsatz einen Verdächtigen erschossen. Es war Notwehr, der Kerl hatte eine Waffe gezogen und auf mich gerichtet. Niemand machte mir einen Vorwurf. Aber ich wusste, dass ich anders reagiert hätte, wenn ich ausgeschlafen gewesen wäre. Ich ließ mich beurlauben. Und ich fing an zu trinken. Stefanie entfernte sich immer mehr von mir. Sie hatte sich innerlich bereits von Anna verabschiedet. Für sie war sie tot. Sie hatte sogar einen Gedenkgottesdienst für sie abhalten lassen. Sie sagte, das Leben müsse weitergehen. Ich begriff das nicht. Anna war irgendwo da draußen und brauchte uns. Wir mussten doch nach ihr suchen. Wir stritten ständig, Stefanie hielt mir vor, dass ich Anna umgebracht hätte, ich hätte im
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