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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Klewe
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einen Moment. »Ich hatte solche Angst.«
    »Geht es Ihnen jetzt besser?«
    »Ja.« Schweigen. »Ich möchte morgen zu Ihnen kommen. Geht das?«
    »Ich muss nachsehen, einen Augenblick bitte.«
    Lydia steckte die Zettel an ihrer Pinnwand hin und her, während sie wartete.
    »Ich hätte um elf Uhr Zeit für Sie, geht das?«
    »Perfekt.«
    »Dann versuchen Sie, sich noch ein bisschen auszuruhen bis dahin. Gute Nacht.«
    Lydia tappte ins Wohnzimmer und trat ans Plattenregal. Keine Macht der Welt würde sie heute Nacht zurück ins Bett bekommen, aber das war nicht wichtig. Sie zog eine Platte hervor, die sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Sie war ihr kostbarster Schatz. Auf dem Cover war das Gesicht eines jungen Mannes abgebildet, der an einem Strand stand. Ein warmes Lächeln erhellte sein Gesicht, die sanften braunen Augen leuchteten, der Wind spielte mit dem dunklen, ein wenig zu langen Haar. Manuel Luiz Cabreras stand darunter, Canções do meu Coração , Lieder meines Herzens . Es war die einzige Schallplatte, die ihr Vater je aufgenommen hatte. Bossa Nova, die Musik, die er so sehr geliebt hatte. Viel Erfolg war ihm nicht vergönnt gewesen. Vielleicht weil er Portugiese und kein Brasilianer, vielleicht weil er nicht gut genug gewesen, vielleicht weil er viel zu früh gestorben war.
    Sie legte die Platte auf und trat ans Fenster. »Eu sei que estás aí em qualquer lugar, pai«, flüsterte sie in die dunkle Nacht. »Ich weiß, dass du irgendwo dort draußen bist, Papa, und auf mich achtgibst.«

23

    Montag, 14. September
    Die Sonne ging als blutroter Ballon über den Feldern auf. Tau schimmerte, ein Schwarm Gänse zog lärmend über die Häuser hinweg, auf dem Weg an einen Ort, wo sich der Winter besser aushalten ließ.
    Philipp Dankert hatte weder Augen für die Gänse noch für den Tau oder die Sonne. Er dachte nur daran, dass heute Montag war und er endgültig erfahren würde, ob die Frau, die sie im Zoopark gefunden hatten, seine Ellen war. Ob die Welt, so wie er sie kannte, aufhören würde zu existieren. Unbegreiflich, dass er sich noch vor wenigen Tagen gewünscht hatte, er hätte sie nie geheiratet. Natürlich war sie manchmal dämlich und ging ihm auf die Nerven. Sie hatte die Kinder nicht richtig im Griff und ließ sich gehen. Aber ihren Tod hatte er sich nie gewünscht. Was sollte er denn ohne sie tun? Er wusste ja nicht einmal, wann die Kinder morgens zum Kindergarten gebracht werden mussten, ob sie sich allein anziehen konnten oder was sie zum Frühstück bekamen. Im Grunde wusste er sehr wenig über Lukas und Maja. Sie waren ja noch so klein, und mit kleinen Kindern hatte er noch nie etwas anfangen können. Wenn sie einmal größer waren, würde er viel mit ihnen unternehmen, Skifahren, auf die Kartbahn gehen oder ein Fußballspiel ansehen. Aber was machte man mit so kleinen ewig quengelnden Würmern?
    Philipp Dankert ging die Treppe hinunter in die Küche und stellte den Wasserkocher an. Im Küchenschrank fand er einen Rest löslichen Kaffee. Das dreckige Geschirr stapelte sich in der Spüle, es müsste dringend in die Spülmaschine geräumt werden, aber das konnte Ellen machen, wenn sie wieder da war. Er stöhnte. Wenn sie wieder da war. Sie musste wiederkommen. Sie konnte ihn nicht einfach im Stich lassen. Ohne sie war er aufgeschmissen.
    Das Wasser kochte. Er schüttete etwas von dem Kaffeepulver in eine Tasse und goss Wasser darauf. Vorsichtig nippte er, schloss die Augen und genoss, wie die heiße Flüssigkeit die Kehle hinunterrann. Beinahe ließ er die Tasse fallen, als das Telefon klingelte. Seine Hand zitterte leicht, als er den Hörer abnahm.
    »Philipp? Bist du das?« Mutter.
    »Ja. Ist alles in Ordnung bei euch?«
    »Uns geht es bestens. Was ist mit Ellen? Ist sie inzwischen wieder zu Hause? Warum bist du nicht arbeiten? Müsstest du nicht längst in der Klinik sein?«
    »Ich bin immer noch krankgeschrieben. Ellen ist vermutlich ab morgen wieder da.«
    »Was ist denn mit ihr? Warum musste sie so plötzlich zu dieser Freundin? Willst du mir nicht erzählen, was los ist? Habt ihr euch gestritten?«
    »Wie kommst du darauf? Haben die Kinder das gesagt?«
    »Also ist es wahr.« Sie seufzte. »Du solltest dich bei deiner Frau entschuldigen, Philipp.«
    »Wie kommst du darauf, dass ich mich entschuldigen muss?« Warum bloß schob jeder ihm die Schuld in die Schuhe? Selbst seine Mutter stellte sich gegen ihn.
    »Philipp, ich weiß, dass du manchmal sehr streng zu ihr bist. Ich kenne dich

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