Der Seele weißes Blut
hilflos und erbärmlich.«
»Was glauben Sie, warum Sie heute Nacht davon geträumt haben?«
Schweigen. »Jemand war an meinem Computer.«
»An Ihrem Arbeitsplatz?«
»Nein.«
»Jemand war an Ihrem privaten Computer? Bei Ihnen zu Hause?«
Nicken.
»Wie ist es dazu gekommen?«
»Ich weiß nicht. Als ich nach Hause kam, war er noch warm. Ich habe ihn hochgefahren und überprüft, welche Dateien zuletzt benutzt wurden.«
»Und?«
»Eine davon hatte ich seit über einem Jahr nicht mehr geöffnet.«
»Sind Sie sicher, dass es dafür keine andere Erklärung geben kann?«
»Absolut.«
»Es ist also jemand in Ihre Wohnung eingebrochen und hat sich Dateien auf Ihrem Rechner angesehen. Haben Sie das der Polizei gemeldet?«
»Ich bin die Polizei.«
»Ich weiß. Haben Sie mit den Kollegen darüber gesprochen? Haben Sie Spuren gesichert oder was auch immer man in einem solchen Fall macht?«
»Nein. Es ist nichts gestohlen worden, und Einbruchsspuren gibt es auch nicht. Jemand muss einen Schlüssel haben.«
»Sie sollten die Schlösser auswechseln, Frau Louis.«
»Keine Sorge, ich weiß, was zu tun ist.«
»Gut. Sie hatten also den Albtraum wegen des Einbruchs, glauben Sie?«
Schweigen. »Als ich die Therapie bei Ihnen angefangen habe, da wollten Sie von mir einen Bericht, eine Art Lebensgeschichte, erinnern Sie sich? Ich sollte aufschreiben, welches die wichtigsten Ereignisse meines Lebens waren, wie ich mich fühle, was ich liebe und was ich hasse, worüber ich mich freue und wovor ich Angst habe. Ich habe brav alles in den Computer getippt, mein ganzes beschissenes Leben auf fünf Seiten, und Ihnen einen Ausdruck mitgebracht. Das wissen Sie doch sicher noch?«
»Natürlich.«
»Das ist die Datei, die der Scheißkerl geöffnet hat.«
24
Sommer 1984
Papa lacht und fährt ihm durchs Haar. Heute hat er gute Laune, hat ihm sogar beim Aufräumen geholfen.
»Schlaf schön«, sagt Papa und macht das Licht aus.
»Nicht das Licht ausmachen!«, möchte er rufen, doch er beißt sich auf die Unterlippe. Bestimmt wird Papa böse, wenn er das hört. Er möchte doch gern Papas großer, mutiger Junge sein. Wenn nur nicht die vielen wilden Tiere wären, die nachts in sein Zimmer kommen, die unter seinem Bett lauern, sobald es dunkel wird. Die Tiere sind gefährlich und wollen ihn fressen. Am gefährlichsten ist das Krokodil. Es hat fürchterlich spitze Zähne, und mit seinem riesigen Maul kann es einen ganzen Menschen auf einmal schlucken. Das weiß er aus dem Fernsehen.
Papa zieht die Tür hinter sich zu und nimmt das letzte Fünkchen Licht mit hinaus auf den Flur. Er horcht in die Stille. Ist da nicht ein Rascheln unter seinem Bett? Ein Schnaufen hinter der Gardine? Geschwind setzt er sich auf, starrt angestrengt in die Dunkelheit, bis seine Augen brennen.
Das Schnaufen ist weg. Dafür hört er, wie Papa die Tür zu Kerstins Zimmer öffnet. Jetzt sagt er ihr gute Nacht. Kerstin hat bestimmt keine Angst vor den wilden Tieren. Sie ist ja auch schon groß. Manchmal würde er gern zu Kerstin ins Bett kriechen. Einmal hat er sich getraut, als die unheimlichen Laute unter seinem Bett besonders grässlich waren. Er ist zu Kerstin hinübergerannt und zu ihr unter die Decke geschlüpft. Aber Kerstin wollte das nicht.
»Hey, spinnst du?«, hat sie gerufen. »Hau ab, ich will schlafen!«
Er hat versucht, ihr von dem Krokodil mit den gefährlich spitzen Zähnen zu erzählen, aber sie hat nach ihm geschlagen. »Verschwinde! Lass mich in Ruhe!«
Also ist er mit klopfendem Herzen zurückgeschlichen und hat den Rest der Nacht in der Dunkelheit Wache gehalten.
Er horcht, bis ihm der Kopf dröhnt. Jetzt ist es ruhig. Auch auf der anderen Seite des Flurs. Warum bleibt Papa so lange bei Kerstin? Liest er ihr eine Geschichte vor? Ihm liest Papa nie etwas vor. Das ist ungerecht. Kerstin kann schließlich schon allein lesen. Er krabbelt aus dem Bett und schleicht zur Tür. Behutsam drückt er die Klinke hinunter. Leise Geräusche kommen aus dem Zimmer gegenüber. Papa liest Kerstin vor. Er möchte mithören, huscht über den Flur und legt sein Ohr an die Tür. Doch er versteht kein Wort. Die Geräusche klingen nicht wie eine richtige Geschichte. Plötzlich hört er ein lautes Stöhnen, es klingt fast wie ein Schrei. Als hätte eins der wilden Tiere unter Kerstins Bett gebrüllt. Doch es war kein Tier, er hat Papas Stimme erkannt. Das muss eine schrecklich gruselige Geschichte voller Kobolde und Drachen sein. Mit einem Mal will er
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