Der Seele weißes Blut
engen Zweisamkeit mit seiner Mutter zu entkommen. Immerhin war der Mann bei seinem Verschwinden einunddreißig gewesen und hatte immer noch zu Hause gelebt. Manche Männer schafften den Absprung nur auf diese radikale Art und Weise.
»Nicht solche Schwierigkeiten, wie Sie vielleicht meinen«, sagte sie rasch. »Rainer war immer ein anständiger Junge. Er ist nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten.«
»Was war es dann?«
»Eine Liebschaft.«
»Eine Liebschaft?«
»Rainer hat sich heimlich mit einer Frau getroffen. Er dachte, ich würde nichts merken, aber natürlich wusste ich genau Bescheid. Aus irgendeinem Grund hielt er die Sache streng geheim. Ich bin mir sicher, dass die Frau verheiratet war. Und da Sie doch diesen Ehering im Wald gefunden haben. Da dachte ich …« Sie zog ein Taschentuch aus dem Mantelärmel und presste es an die Augen.
Halverstett und Schmitt warteten, bis sie sich wieder gefasst hatte.
Dann fragte Schmitt: »Wissen Sie etwas über diese Frau? Hat er mal ihren Namen erwähnt oder erzählt, wo sie wohnt?«
»Nein. Er hat nie mit mir über sie gesprochen. Aber ich weiß, dass es sie gab. Manchmal hat er spät nachts noch mit ihr telefoniert, wenn er dachte, ich schlafe. Ich habe gehört, wie er Kosenamen und Liebeserklärungen ins Telefon flüsterte.«
»Haben Sie ihn nie darauf angesprochen?«, wollte Halverstett wissen.
»Doch. Einmal habe ich ihn nach ihr gefragt. Erst hat er alles abgestritten, aber ich habe nicht lockergelassen. Schließlich hat er gesagt, er könne nicht mit mir darüber reden. Ich würde es nicht verstehen.«
Halverstett nickte nachdenklich. »Gibt es sonst irgendjemanden, der darüber Bescheid wissen könnte? Vielleicht einen Freund?«
»Wenn einer etwas wusste, dann der Christian. Das war Rainers bester Freund. Seit der ersten Klasse.«
»Christian. Und weiter?«
»Christian Feller. Er ist Arzt. Radiologe. Ich glaube, seine Praxis ist irgendwo in der Innenstadt. Ich habe seit vielen Jahren nichts von ihm gehört, doch manchmal schaue ich im Telefonbuch nach, ob er noch drinsteht.«
Wenig später verabschiedete sich Frau Kästner. Rita brachte sie hinunter ins Foyer. Als sie zurück ins Büro kam, blätterte Halverstett im Telefonbuch.
»Du willst diesem Hinweis nachgehen?«, fragte sie.
»Warum nicht? Kann doch nicht schaden, oder?« Er wusste, was Rita dachte. Wenn der eifersüchtige Ehemann Rainer Kästner umgebracht hatte, warum hatte die Frau ihn gedeckt? Wie war ihr Ehering an den Tatort gekommen? Und warum hatte der beste Freund der Polizei damals keinen Hinweis gegeben? Das ganze Szenario war äußerst unwahrscheinlich, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass das Leben die sonderbarsten Geschichten schrieb.
Rita ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Du hast natürlich recht«, sagte sie. »Schaden kann es nicht. Vor allem, da wir nach wie vor keine andere verwertbare Spur haben.«
»Was ist mit deiner Recherche bei den Sammlern?«
Sie zwinkerte geheimnisvoll. »Ich bin da an einer Sache dran. Aber das dauert noch ein bisschen.«
»Gut. Ich lasse mich überraschen.« Er wählte die Nummer der Arztpraxis und erfuhr, dass Dr. Feller noch bis Samstag im Urlaub war. Er ließ sich die Privatnummer geben und legte auf. Nachdenklich betrachtete er die Tastatur seines Computers. Bisher hatte er jeden Gedanken an den vergangenen Abend erfolgreich verdrängt, aber seine Festung begann zu bröckeln. Veronika hatte ihn in die peinlichste Situation seines Lebens gebracht. Er hatte sich mit ihr in der Hotelbar getroffen. Anfangs war das Gespräch gut verlaufen. Er hatte ihr von seinen zwiespältigen Gefühlen erzählt, von dem Wunsch, ihre Ehe zu beenden, die keine mehr war, und von den Ängsten, die diese Vorstellung in ihm auslöste. Dann hatte er den Fehler begangen, Maren zu erwähnen. Und plötzlich war für Veronika alles klar gewesen, und sie hatte ihm vor allen Leuten eine Szene gemacht. Ihn einen schwanzgesteuerten Trottel genannt.
»Von wegen Ehekrise«, hatte sie gebrüllt. »Hier geht es doch nur um Sex. Sex mit einer jüngeren Frau. Das ist wirklich billig, Klaus. Und ich blöde Kuh habe immer gedacht, du seist mit deiner Arbeit verheiratet. Dabei kannst du nur wie alle anderen Männer deinen Schwanz nicht in der Hose behalten.«
In dreißig Jahren Ehe hatte er seine Frau kein einziges Mal so reden hören. Alles Vulgäre war ihr normalerweise zuwider. Er begriff, dass sie zutiefst verletzt war, und er wusste, dass es nichts nützen würde,
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