Der Seelenbrecher
während sie an Caspar vorbeiging, ohne ihn zu grüßen.
»Ich mach das nur übergangsweise. Bin Sängerin, keine Psychonanny«, hatte sie ihn gleich am zweiten Tag aufgeklärt, sichtlich froh darüber, dass er keine Hilfe beim Pinkeln benötigte. Und tatsächlich schien sie hier völlig fehl am Platz zu sein, mit ihrem acrylrot gefärbten Pony, dem Stacheldrahtring um ihren Daumen und der ewig schlechten Laune. Doch Caspar ahnte mittlerweile, weshalb Raßfeld sie trotz ihres Zungenpiercings und ihrer Körperbemalung in seinem elitären Umfeld duldete. Yasmin liebte ihren Job. Sie war gut darin, wollte aber nicht, dass andere das bemerkten.
Auf dem Weg zum Empfang versanken Caspars Füße in dem dicken Teppich, der sich über den gesamten Eingangsbereich erstreckte. Die Auslegeware hinterließ bei Neuankömmlingen einen anheimelnden Eindruck, ganz anders als der klinikübliche antiseptische Linoleumboden. Gleiches galt für das Büro des Hausmeisters. Dirk Bachmann liebte Weihnachten. Obwohl seine Ehe bislang kinderlos geblieben war, zelebrierte er das Familienfest mit einer detailversessenen Hingabe, als gäbe es einen Preis dafür zu gewinnen. Das teilverglaste Empfangsbüro neben dem Haupteingang war mit so vielen Weihnachtsmännern, Goldengeln, Lichterketten, Krippenfiguren und Lebkuchenhäusern zugerammelt, dass man darüber fast den lamettaüberladenen Tannenbaum übersehen konnte, der zwischen einem Metallschreibtisch und dem Schlüsselschrank klemmte.
»Herr Professor …?«, fragte Caspar leise, um den Klinikleiter nicht zu erschrecken. Trotzdem fuhr der Chefarzt zusammen.
»Sie schon wieder?« In Raßfelds Blick lag etwas Schuldbewusstes, was sich aber schnell wieder verflüchtigte. »Ich dachte, ich hätte mich vorhin deutlich genug ausgedrückt. Sie gehören ins Bett.«
So wie Sie , dachte Caspar und bemühte sich, nicht auf die nachtschwarzen Augenringe des Klinikleiters zu starren.
»Die anderen sind sehr aufgeregt«, log Caspar. Tatsächlich gab es außer ihm nur noch Greta und Linus als Patienten. Und während die alte Dame in voller Lautstärke das wieder empfangbare Vorabendprogramm verfolgte, schien der Musiker sein Interesse an den jüngsten Ereignissen bereits verloren zu haben. Jedenfalls war er hier unten nicht mehr zu sehen.
»Was ist da draußen los?«
Raßfeld zögerte, schüttelte dann widerwillig den Kopf und deutete dabei auf den Monitor. Anscheinend hoffte er, Caspar schneller loszuwerden, wenn er ihm wenigstens eine seiner Fragen beantwortete.
»Irgendein Krankenwagen ist vor unserer Einfahrt vom Weg abgekommen, hat einen Telefonkasten gerammt und ist dann umgekippt.«
Caspar warf einen flüchtigen Blick auf den flackernden Bildschirm. Das waren also die Lichter, die durch die Bäume gezuckt waren. Das Blaulicht des Rettungswagens rotierte immer noch auf dem Dach.
Wenn die Einfahrt videoüberwacht wird, müsste es doch auch eine Aufnahme davon geben, wie ich hier raufgekommen bin? , dachte er, entschied aber, dass jetzt kaum der richtige Zeitpunkt war, um Raßfeld danach zu fragen.
»Kann ich irgendwie helfen?«, sagte er stattdessen. Das Haus war heute Abend unterbelegt. Da die Klinik nur mit drei Patienten besetzt war, hatten sich bis auf Sophia alle Ärzte freigenommen. Der große Ansturm der Feiertagsdepressiven wurde erst für morgen Nachmittag erwartet. In letzter Sekunde. Dann, wenn die Vorstellung, den Heiligen Abend schon wieder alleine verbringen zu müssen, zur unerträglichen Gewissheit wurde. »Nein danke. So weit kommt es noch.« Raßfeld rang sich ein spöttisches Lächeln ab. »Wir kommen schon alleine klar. Frau Dr. Dorn und Herr Bachmann sind mit dem Schneeräumgerät nach unten gefahren.«
Wie zum Beweis erschien erst Sophia und dann der Hausmeister im Bild der Überwachungskamera. »Anders kommt man bei dem Eis den Abhang auch gar nicht mehr runter, geschweige denn wieder herauf.« Ein Funkgerät in der Aufladestation neben dem Monitor knackte, und Bachmanns Stimme war zu hören. »Ich glaube, es ist nur einer.«
Raßfeld zog das blinkende Walkie-Talkie aus der Halterung.
»Ist er verletzt?«
»Schwer zu sagen.« Jetzt sprach Sophia. »Ich vermute, der Fahrer steht unter Schock. Der Mann sitzt neben dem zerstörten Telefonkasten. Moment mal.«
Caspar konnte auf dem Bildschirm nichts mehr erkennen, da Raßfelds Rücken die gesamte Fläche verdeckte. »Verdammt, hier ist noch jemand«, knackte es aus dem Funkgerät. »Das war ein Patiententransport.«
Caspar stellte
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