Der Seelenbrecher
sich haben, wenn er sich heute Abend aus dem Staub machte.
Er seufzte, während er seine wenigen Habseligkeiten auf dem Bett ausbreitete. Das meiste war vom Krankenhaus geborgt oder von Sophia in der Stadt gekauft worden, damit er wenigstens etwas zum Wechseln besaß: ein halbes Dutzend Socken und Unterwäsche, zwei Pyjamas, ein Trainingsanzug und Badelatschen, mehrere Toilettenartikel sowie einen historischen Roman von Peter Prange, den er eigentlich in die Krankenhausbibliothek zurückbringen müsste.
Mein Leben passt in eine Plastiktüte, dachte er, nachdem Caspar alles, was er nicht am eigenen Körper tragen wollte, in einem festen Müllsack verstaut hatte. Einen Rucksack oder eine andere Tasche besaß er nicht, und so musste er die Tüte aus dem Abfalleimer benutzen. Danach zog er den schwarzen Anzug an, den er am Tag seiner Ankunft getragen hatte. Den gefütterten Wintermantel legte er sich über den Arm, mit dem er die Tüte trug. In der anderen Hand hielt er seine schweren Schnürstiefel. Er wollte sie erst anziehen, wenn er die hölzerne Treppe hinter sich gelassen hatte.
Also dann.
Caspar vermied es, noch einen letzten Blick in sein gemütliches Zimmer zu werfen. Er löschte das Licht und trat in den stillen Flur hinaus mit der Absicht, nie wieder zurückzukehren.
19.06 Uhr
Langsam schlich er sich die Treppe hinunter, glücklich über den Umstand, dass die Klinik so schlecht belegt war und ihm deshalb kaum jemand begegnen würde. Doch schon im ersten Stock musste er erkennen, dass er sich den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht hatte, um unbemerkt durch die Empfangshalle nach draußen zu spazieren. Caspar beugte sich über die Balustrade des Treppengeländers. Von unten hörte er eine laute, ihm unbekannte Stimme. Offensichtlich war es die des Sanitäters, der entgegen Sophias erster Vermutung ganz und gar nicht unter Schock zu stehen schien, dafür sprach er viel zu flüssig.
»Jonathan Bruck, siebenundvierzig Jahre alt, ein Meter fünfundachtzig groß, etwa neunzig Kilo«, leierte der Mann herunter. Sein angenehmer Bariton klang ähnlich seriös wie die Stimme eines Nachrichtensprechers, wären da nicht die irritierenden Nebengeräusche gewesen, die sie begleiteten und die Caspar an das Rasseln einer Kaffeemaschine erinnerten.
»Steht vermutlich unter Alkohol-oder Drogeneinfluss. Der Besitzer des Teufelsseemotels hat den Krankenwagen gerufen, nachdem die Putzfrau Bruck bewusstlos in seinem Zimmer gefunden hat.«
Caspar hörte das Gestänge einer Metallliege klappern, deren blockierende Räder vermutlich gerade tiefe Rillen durch die cremefarbene Auslegeware zogen, dann wurde ihm schlagartig klar, was das gluckernde Rasseln zu bedeuten hatte. Es kam aus der Kehle des Patienten. »Und die Tracheotomie?«, fragte Raßfeld wie zur Bestätigung.
»Selbstverstümmelung. Ich dachte ja, er pennt. War meine letzte Tour, wollte ihn nur schnell ins Westend bringen. Doch dann, wir passieren gerade Ihre Einfahrt da unten, schaue ich in den Rückspiegel und denke, ich seh nicht recht. Der Irre steht auf, schreit wie ein Bekloppter und rammt sich das Taschenmesser in den Hals. Ich trete auf die Bremse, komm ins Schlingern und ramme den Trafokasten oder was das da war. Na ja, den Rest kennen Sie ja.«
Während der Zusammenfassung waren Raßfeld und der Sanitäter zum Fahrstuhl gegangen und standen jetzt direkt unter der Balustrade. Caspar befand sich nur wenige Meter über ihren Köpfen, so dicht, dass er Brucks Atem hören konnte, dessen Züge so klangen, als würde man mit einem Strohhalm den letzten Tropfen aus einem Pappbecher saugen.
»Ich würde Sie bitten, den Patienten nicht als Irren zu bezeichnen«, sagte Raßfeld und klang dabei so, als sei er persönlich beleidigt worden.
Caspar zuckte zusammen, da er in seiner unmittelbaren Nähe eine Bewegung ausmachte.
Dann erkannte er, dass es sich nur um eine Reflexion in der großen Panoramafensterscheibe handelte, die einige Stufen unter ihm auf dem Treppenabsatz in die Außenmauer eingelassen war. Der Sturm da draußen hatte sich in nur wenigen Minuten zu einem regelrechten Blizzard ausgewachsen. Die schwachen Strahlen der Gartenlampen des Klinikparks hatten den münzgroßen Schneeflocken wenig entgegenzusetzen. Sie prallten an den Verwehungen ab und erzeugten bei Caspar kurzfristig die unangenehme Vision von einem weißen Bienenschwarm, der vor seinen Augen zu einer einheitlichen Masse verschmolz. Dann, als er sich ganz auf die Reflexion in der
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