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Der Seelenbrecher

Der Seelenbrecher

Titel: Der Seelenbrecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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zurückgebracht, das Sie mir empfohlen haben.«
Rhetorik? , wunderte sich Caspar.
Normalerweise versuchte der Hausmeister bei jeder Gelegenheit, die Patienten mit einem albernen Witz aufzuheitern. In Raßfelds Gegenwart klang er jetzt wie ein verunsicherter Schüler, der ohne Entschuldigungsschreiben seiner Eltern zu spät zum Unterricht kommt. »Verdammtes Blitzeis«, grummelte der Professor unwirsch. »Ist jemand verletzt?«
»Schwer zu sagen. Das Ding liegt quer in der Einfahrt. Die Überwachungskameras haben nicht alles im Bild.« Der Wind trieb einen Schwarm feuchter Schneeflocken ins Zimmer und nahm Caspar gänzlich die Sicht. »Und wie kommen wir jetzt da runter?«
In dem Moment schlug das Fenster mit einem lauten Rums vor seiner Nase zu.
Caspar fuhr herum und sah Linus in seinem Zimmer stehen. Der Musiker wirkte gleichzeitig erschrocken, verwirrt und neugierig, so als hätte er gerade entdeckt, dass er über telekinetische Kräfte verfügte, mit denen er Fenster schließen konnte.
»Das war nur der Wind«, nahm Caspar ihm seine Befürchtungen. »Was gibt’s denn?«
»Bösefall«, murmelte Linus leise. »Uaukippto!« Der Dauerpatient lebte nicht nur in seiner eigenen Welt, er kommunizierte auch in einer selbsterfundenen Sprache. Jahrelang hatte er seinen Kopf mit einem Cocktailmixer verwechselt, der wahlweise durch Mund oder Nase mit einem unerschöpflichen Vorrat an Tabletten, Drinks und Pulvern gefüttert werden musste. Niemand konnte genau sagen, welche Droge schließlich den Rührstab auf volle Umdrehungen gepeitscht hatte, aber nachdem der Sänger von den Notärzten hinter der Bühne reanimiert worden war, war er nicht mehr in der Lage, die Wörter seiner Sätze in die richtige Reihenfolge zu setzen. Selbst die Buchstaben hatten sich verknotet.
»Fallenschit, yessalam«, rief er lächelnd. Hatte Caspar ›bösefall‹ noch mit ›böser Unfall‹ übersetzt, war er bei diesen Kunstworten ratlos.
Seinem Grinsen nach schien sich Linus über die unerwartete Ablenkung zu freuen, doch bei ihm sollte man besser nicht von der äußeren Erscheinung auf den inneren Gemütszustand schließen. Als Caspar den Musiker das letzte Mal hatte lachen hören, wurden ihm gerade die Hände ans Bett gefesselt. Man wollte verhindern, dass er sich in einem psychotischen Schub wieder einmal die Haare ausriss, um sie aufzuessen.
»Wollen wir nachsehen?«, fragte Caspar, woraufhin Linus ihn für einen kurzen Moment so ansah, als wäre er noch niemals im Leben so sehr beleidigt worden. Dann lachte er wieder und rannte wie ein übermütiges Schulkind aus dem Zimmer. Caspar zuckte mit den Achseln und folgte ihm.
     

18.39 Uhr
    Linus hatte ihm den Fahrstuhl vor der Nase weggeschnappt, und so wählte er für seinen Abstieg die altertümliche Holztreppe, die sich wie eine Liane um den Aufzugsschacht nach unten schlängelte. Die ausgetretenen Stufen knarrten bei jedem Schritt, und da Caspar auf Socken ging, fühlte er sich wie ein Jugendlicher, der sich nachts aus der Wohnung seiner Eltern stahl. Habe ich das früher so gemacht? Oder war ich ein braver Streber, der immer pünktlich nach Hause kam? Seit Tagen hatte er in jeder freien Minute versucht, in der kathedralenartigen Leere seines Gedächtnisses Antworten auf die trivialsten Fragen zu finden. Wie sein erstes Kuscheltier hieß; ob er in der Schule beliebt oder ein Außenseiter gewesen war. Was für ein Auto stand in seiner Garage? Was war sein Lieblingsbuch? Gab es ein Lied, das er nur zu bestimmten Anlässen hörte? Wer war seine erste Liebe? Sein größter Feind? Er konnte es nicht sagen. Seine Erinnerungen waren wie Möbelstücke in einem leerstehenden Haus, die vom Vorbesitzer mit schweren Bettlaken verhüllt worden waren. Bis gestern noch hatte er den Staubschutz über den Fragezeichen herunterreißen wollen. Seit heute hatte er Angst, eine schreckliche Wahrheit könnte sich darunter verborgen halten.
Ich habe Angst. Bist du denn schnell wieder zurück, Papi?
Als Caspar in seinen trübsinnigen Gedanken versunken das Erdgeschoss erreichte, war Linus verschwunden. Stattdessen kam ihm Yasmin Schiller entgegen.
»Ja, ja, mach ich. Wer denn sonst?«, kommentierte die junge Krankenschwester genervt eine Bemerkung Raßfelds, der wenige Schritte entfernt in Bachmanns Pförtnerbüro stand.
Ihr Unmut, vom Chef wieder einmal zum Lauf burschen degradiert zu werden, stand Yasmin ins Gesicht geschrieben. Dann verdeckte eine hellblaue Kaugummiblase zwei Drittel der unteren Gesichtshälfte,

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