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Der Seelenbrecher

Der Seelenbrecher

Titel: Der Seelenbrecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Fensterscheibe konzentrierte, sah er für den Bruchteil eines Wimpernschlags ein unheimliches Gruppenbild im Spiegel: Zwei kräftige Männer flankierten eine Trage, auf der eine reglose Gestalt lag, aus deren Hals ein Schweizer Taschenmesser ragte. Die Fahrstuhltüren öffneten sich mit einem entrüsteten Quietschen, und das Bild verschwand so schnell, wie der Geruch in Caspars Nase schoss. Der Geruch von Feuer. Von Verbranntem. Rauch.
Sind das etwa wieder die Vorboten einer Erinnerung? Caspar trat unbewusst einen Schritt vom Fahrstuhl zurück, als könne die Erinnerung mit dem Lift zu ihm nach oben fahren, um ihn unvermittelt aus der Aufzugskabine anzuspringen. Er fröstelte. Und dann schrie er auf, genau in dem Moment, in dem er rücklings auf die hagere Gestalt prallte, die ihn schon die ganze Zeit aus dem Dunkeln heraus heimlich beobachtet hatte.
     

19.10 Uhr
    Der Mann kaute Kaugummi und trug dünne Lederhandschuhe über den Fingern, doch seine frisch gewaschenen Haare verrieten ihn. Da half es auch nicht, dass er seine Zigarette bei geöffnetem Fenster geraucht haben musste. Der Qualm hatte sich in den wenigen Strähnen verfangen, die ihm noch geblieben waren, und als er jetzt hektisch den Kopf schüttelte, verteilte er den leicht abgestanden Geruch um sich herum.
»Okay, ist schon gut, ich verpfeif dich nicht.«
In der gesamten Klinik galt absolutes Rauchverbot, und es zeugte durchaus von Humor, dass Linus sich ausgerechnet auf der Sport-und Wellnessetage der Villa eine Zigarette angesteckt hatte.
Also doch keine Vorboten. Keine weitere Erinnerung. »Koit, ichs’s dwa zen!« Linus’ Mundwinkel zuckten, und er klang ängstlich. Zu ängstlich dafür, dass er lediglich die Hausordnung überschritten hatte. Er wedelte unruhig mit den Händen, als versuche er sich in Zeichensprache, was angesichts seiner eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit in Caspars Augen kein schlechter Einfall war. »Was ist los?«, fragte er.
Statt einer Antwort griff Linus nach seiner Hand mit der Tüte und zog ihn hinter sich her. Er öffnete die gegenüberliegende Tür, über der tatsächlich ein Schild mit dem Hinweis »Fitnesscenter« hing. In jeder anderen Anstalt wäre das schlicht und einfach der Raum für die Krankengymnastik.
Caspar hatte sich bislang noch nicht hierher verirrt und war deshalb etwas überrascht über die modernen Hightechgeräte, die in dem verspiegelten Sportsaal standen. Sein Blick wanderte über Laufbänder, Ruder-und Hantelbänke, und er fragte sich gerade, wozu die blinkende Gummitreppe in der Ecke wohl gut war, als Linus den Finger an die Lippen legte und das Licht löschte. Dann öffnete er eine Glastür, die zu einem kleinen Austritt führte. Plötzlich wurde es heller, doch das war eine optische Täuschung, ausgelöst durch die Schneeflocken, die jetzt um ihre Füße wirbelten und die zuckenden Lichter der elektronischen Sportgeräte reflektierten.
Okay, hier hast du dir also eine Zigarette reingezogen , dachte Caspar und blieb stehen. Linus fuchtelte wieder mit dem Arm. Offenbar wollte er, dass er ihm weiter folgte. Hinaus auf den von Schneematsch und vereisten Regentropfen überzogenen Holzfußboden des Balkons. »Hey, Kumpel, siehst du das hier?« Caspar zeigte kopfschüttelnd auf seine Füße. »Ich latsch doch nicht auf Socken in die Kälte.«
»Ichs’s dwa zen«, zischte Linus. Dieses Mal noch ungeduldiger und ängstlicher. Dann ging er einen Schritt rückwärts, nickte Caspar noch einmal zu und war eine Sekunde später in der Dunkelheit verschwunden.
»Komm zurück«, rief Caspar. Du holst dir den Tod. Der Gedanke ließ ihn erschauern, bevor er ihn aussprechen konnte.
Und jetzt?
Er hatte keine Zeit zu verlieren. Im Augenblick waren Raßfeld und der Rest der Belegschaft durch den Neuzugang abgelenkt. Ein günstiger Zeitpunkt, um sich unbemerkt aus der Klinik zu schleichen. Andererseits glaubte Caspar auf einmal, das babylonische Kauderwelsch von Linus übersetzen zu können.
Koit, ichs’s dwa zen – Komm mit. Ich muss dir was zeigen.
Verdammt. Womöglich würde Linus ihm lärmend hinterherrennen, wenn er jetzt nicht nachgab, und auf diese Form der Aufmerksamkeit konnte er gut und gerne verzichten.
Er schlüpfte in seine Stiefel und zog den Mantel über. Die Jalousien vor den Fenstern waren fast zu einem Drittel herabgelassen, und Caspar war zwei Köpfe größer als Linus, also musste er sich bücken, um ihm zu folgen. Der eisige Wind stemmte sich ihm wie ein unsichtbarer Türsteher

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