Der Seelenbrecher
vertraut, so bekannt vor. Wie fast alle größeren Zimmer der Villa war natürlich auch das Chefarztbüro mit einem Kamin ausgestattet, über dem zahlreiche gerahmte Urkunden und einige Familienbilder hingen, die Caspar unbekannt und vertraut zugleich schienen. Er wollte einen Schritt auf den Kamin zugehen, atmete tief durch – und dann war es auf einmal so weit.
Es geschah ohne Vorwarnung. Plötzlich legte ein biochemischer Bahnwärter auf dem Abstellgleis seines Gedächtnisses die erste Weiche um. Der Zug der Erinnerung kam schnell. Viel zu schnell für die stillgelegten Gleise, auf denen er sich durch sein Bewusstsein fraß, und Caspar rechnete schon damit, dass er den Gedanken nicht zu fassen bekommen würde. Doch dann verlangsamte sich die Lok, aus deren Schornstein dichter, nach brennendem Papier riechender Rauch aufstieg. Nach oben, immer weiter hinauf aus den Untiefen seines verschütteten Langzeitgedächtnisses, bis er sich vor Caspars innerem Auge materialisierte. Zu einem Schreibtisch! Einem Tisch, an dem er sich selbst sitzen sah. Mit einem Diktiergerät in der Hand, so ähnlich wie das, das Tom ihm gerade zugeworfen hatte.
»Es kann losgehen. Ihre Tochter ist jetzt so weit«, hörte er eine Frauenstimme aus einer Gegensprechanlage zu ihm sagen. Und er sah sich aufstehen, den Stuhl vor dem Schreibtisch zurechtrücken und einen letzten Blick auf das Foto in der Akte werfen, die er gerade zuschlagen wollte. Das Bild eines blondgelockten Mädchens. Seiner Tochter?
»Wir haben alles vorbereitet, Herr …«
»Hallo, jemand zu Hause?«
»Was, wie …? Äh … Ja. Alles okay«, stotterte Caspar wenig überzeugend, und der Klang der Gegensprechanlage verstummte in seinem Ohr.
Tom musterte ihn misstrauisch.
»Hast du dich eben an was erinnert?«
»Nein, ich … ich bin nur etwas nervös, das ist alles.« Bevor er sich selbst keinen Reim auf sein langsam wiederkehrendes Gedächtnis machen konnte, wollte er niemanden verunsichern. Am wenigsten einen Menschen, der ihm gegenüber eine unterschwellige Feindseligkeit ausstrahlte.
»Du verschweigst doch was?«, fragte Schadeck. »Nein.«
»Doch, tust du.«
Caspar wollte sich auf keinen Hahnenkampf einlassen und drängte an Schadeck vorbei zu der Verbindungstür zwischen Raßfelds Büro und der Klinikapotheke. Sie war abgeschlossen, aber Bachmann hatte ihnen einen Schlüssel mitgegeben.
Als Caspar den fensterlosen Raum betrat, aktivierte ein Bewegungsmelder automatisch das Deckenlicht. Unschlüssig blieb er vor den Glasschränken und Metallregalen stehen, in denen die Medikamente aufbewahrt wurden.
»Hier ist das, was wir brauchen.« Schadeck war ihm gefolgt und öffnete einen Kühlschrank mit durchsichtiger Frontscheibe. Er zog zwei Infusionsbeutel hervor und schüttelte sie wie einen Cocktailshaker, dann versuchte er das Streitgespräch von eben fortzusetzen.
»Ich würde zum Beispiel wetten, wir arbeiten in der gleichen Branche.«
»Wieso?«
»Infusion, dehydriert, Kortison?«, zählte der Rettungsfahrer auf, während er in einem Schiebeschrank nach Injektionsnadeln und Pflastern suchte.
»Alles deine Worte. Also entweder bist du ein Hypochonder, oder du liest auch beruflich mal einen Beipackzettel. Außerdem sah es irgendwie sehr geübt aus.«
»Was?«
»Na wie du sie angefasst und den Puls der Kleinen gefühlt hast. Mann, ich wette, du hast schon mal einen Zugang gelegt.«
Schadeck ließ mehrere verschweißte Kanülen in seine Hosentasche gleiten und wandte dabei den Kopf zu ihm um.
»Nur damit du es weißt, ich behalte dich im Auge. Ich weiß nämlich von dem Überwachungsvideo.« »Welches Video?«, fragte Caspar, obwohl er ahnte, worauf Schadeck anspielte.
»Du hast in der Einfahrt rumgelungert und bist mit deinem Hund erst die Auffahrt hoch, als unser Riesenbaby Bachmann den Alten vom Gelände gefahren hat. Was für mich beweist, dass du nicht zufällig hier bist. Du hattest ein Ziel.«
»Ach ja, und das alles hat dir ›Yazzie‹ gesagt?«, fragte Caspar und ärgerte sich, dass es bei weitem nicht so gelangweilt klang, wie er es wollte. Aber dafür war seine Anspannung ohnehin viel zu groß, und das Perverse war, dass er diese Unterstellung weder dementieren noch bestätigen konnte.
»Ja, und die hat es von Bachmann.«
»Tolle Quellen.« Caspar sah auf sein Handgelenk, an dem er jedoch keine Uhr trug. »Lass uns nicht noch mehr Zeit verplempern. Wir sollten uns schleunigst auf den Rückweg machen. Dir ist doch auch klar, weshalb der Seelenbrecher das
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