Der Seelenbrecher
seinem Rucksack, den er auf dem Nachbarstuhl postiert hatte.
»Erst sollen wir diesen mysteriösen Text lesen, den offensichtlich ein Geisteskranker verfasst hat, und dann stellt sich heraus, dass wir genau auf den Stühlen sitzen, auf denen all die Menschen auf ihren Henker gewartet haben.«
»Was hast du vor?«, fragte Lydia angespannt. Ihre helle Stimme klang ebenfalls sehr viel nervöser als noch zu Beginn des Experiments.
»Ich gehe.«
»Was?«
»Ich gehe eine rauchen«, klärte er das Missverständnis.
Patrick klemmte sich seinen Rucksack zwischen die Knie, um beide Hände für eine dunkelblaue Daunenjacke frei zu haben, die er sich jetzt überzog. Mit einem Arm war er schon hineingeschlüpft.
»Und wenn ich wieder da bin, will ich endlich wissen, worum es sich in diesem Experiment wirklich dreht.« »Ich fürchte, das geht nicht«, sagte der Professor freundlich, aber bestimmt.
Er rieb sich die müden Augen, ohne die Brille von der Nase zu nehmen.
»Wie, herrscht draußen im Park etwa auch Rauchverbot?«, fragte Patrick.
Der Professor lächelte nachsichtig. »Nein. Aber in diesem Stadium des Versuchs dürfen Sie den Saal leider nicht mehr verlassen.«
»Wieso nicht?«, fragten Lydia und Patrick fast gleichzeitig.
»Nicht, bis Sie das Ende gelesen haben.«
»Sie können uns doch hier nicht gegen unseren Willen festhalten?«
»Nun, vielleicht haben Sie es übersehen, aber diese Bedingung haben Sie mit Ihrer Einverständniserklärung vorhin unterschrieben. Und abgesehen davon, selbst wenn Sie jetzt nach Hause gehen würden, wäre das Experiment damit noch lange nicht vorbei. Sie können es nicht einseitig abbrechen.«
»Wieso? Das verstehe ich nicht.« Patrick stellte den Rucksack wieder ab.
Der Professor lächelte.
»Das ist Teil des Versuchs. Damit er gelingt, dürfen Sie keine großen Pausen machen und müssen kontinuierlich weiterlesen. Bis zum Ende. Was ich Ihnen im Übrigen ohnehin dringend empfehlen würde. Allerdings von jetzt ab mit etwas mehr Konzentration, bitte.«
»Wie wollen Sie beurteilen, wie konzentriert ich bislang war? Sie haben doch die ganze Zeit aus dem Fenster gestarrt«, fragte Patrick nicht mehr ganz so aggressiv. Lydias Verunsicherung hatte sich auch auf ihn übertragen.
»Ich merke es an Ihrer Reaktion. Sie würden jetzt niemals eine Pause machen wollen, wenn Sie von Anfang an etwas genauer hingesehen hätten. Die Wahrheit …«
Der Professor nahm seine Originalausgabe der Seelenbrecherakte in die Hand. »… die Wahrheit findet sich in jedem einzelnen Satz. Auf jeder einzelnen Seite. Doch Sie haben sie überblättert.«
»Quatsch.«
»Finden Sie es heraus.« Der Professor griff nach einer Wasserflasche, die er zur allgemeinen Verfügung in die Mitte des Tisches gestellt hatte, und goss sich ein Glas ein. Er streckte es Patrick fragend entgegen.
»Also gut«, sagte Lydia und zupfte ihren Freund an seinem leeren Jackenärmel. »Lass uns einfach weitermachen. Du willst doch auch wissen, wie das alles ausgeht, oder?«
Patrick zögerte, fuhr sich durch seine schwarzgefärbten Haare und wollte Lydias Hand abstreifen. Doch die hielt ihn fest und sah ihm tief in die Augen. Sekunden verrannen, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. »Ach, was soll’s«, brach er schließlich das Schweigen und schlurfte mit seinen offenen Schuhen zur Tür. Zwei Meter davor blieb er stehen und griff wortlos nach der Wasserflasche. Dann ging er wieder zu seinem Platz zurück und setzte sich. »Auf eine Stunde mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.« Lydia rang sich ein mattes Lächeln ab.
Ich fürchte, die Menschen damals in dieser Bibliothek hier sahen das etwas anders, dachte der Professor, und ein trauriger Nebel schob sich vor seine Augen. Er senkte den Blick, damit sie nicht merkten, wie sehr ihm die ganze Situation zu schaffen machte. Wie sehr sich ein Teil in ihm gewünscht hatte, dass Patrick seine Jacke anbehalten und am besten zusammen mit seiner Freundin an der Hand die Villa verlassen hätte. Doch er fing sich wieder, atmete tief durch und sagte mit belegter Stimme:
»Also gut, nach dieser ungeplanten Pause würde ich Sie jetzt bitten, ohne weitere Unterbrechungen mit dem Experiment fortzufahren.«
Er räusperte sich, aber die Beklemmung in seinem Hals wollte nicht verschwinden. Sie steigerte sich sogar noch um einige Grade, als er sah, wie erst Lydia und danach ihr Freund die Akte wieder aufschlugen. Und umblätterten. Auf Seite 124 der Patientenakte.
01.41 Uhr – Hundertsiebzehn
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