Der Seelenbrecher
Mein Vater lachte nur und sagte, jetzt hätte sie es aber übertrieben. Jetzt wäre der Brei wirklich versalzen. Dann sollte ich mal wieder im Telefonbuch nach der Adresse eines Krankenhauses suchen, in dem wir noch nicht waren.« Schadeck sah in die Runde. »Ihr wisst schon, wegen der blöden Fragen, wenn die Ehefrau zweimal hintereinander einen Unfall hat.«
»Okay, das ist wirklich sehr schlimm«, warf Bachmann ein. »Aber was hat das bitte mit unserer Situation hier zu tun?«
»An diesem Abend habe ich mir geschworen, nie mehr untätig zu sein. Ich meine, wir waren zwar nur Kinder. Aber mit meiner Mutter zusammen waren wir zu viert. Und er war alleine. Versteht ihr?«
»Was haben Sie getan?«, fragte Sybille leise.
»Jeder hat seine dunklen Geheimnisse«, lächelte Schadeck spöttisch, den Blick auf einmal auf Caspar gerichtet.
»Schöne Geschichte«, sagte Bachmann. »Dennoch sollten wir bis morgen warten …«
Auf einmal sahen alle nervös zur Zimmerdecke, und der Hausmeister stockte.
»… bis morgen die Frühschicht … Verdammt, was ist das?«
Jetzt hörte Caspar es auch. Die scheppernden Geräusche drangen aus einem kleinen Plastikkasten an der Decke, den er bislang für einen Rauchmelder gehalten hatte. Das gluckernde Zischen war wegen seiner metallischen Nebengeräusche noch unverständlicher als Sophias klägliche Laute. Es klang, als ahme jemand eine Kaffeemaschine in ihren letzten Zügen nach.
»Woher kommt das?«, fragte Schadeck.
»Aus unserer Haussprechanlage. Wir haben einen Lautsprecher in jedem öffentlichen Raum.«
»Großer Gott, ist das etwa der …? «, rief die Köchin, und Caspar nickte reflexartig. Natürlich war er das. Seine Stimmbänder waren verletzt. So musste sich jemand anhören, der sich die Stimmbänder mit einem Messer zerrissen hatte.
»Der Seelenbrecher spricht zu uns«, rief Yasmin mit immer lauter werdender Stimme.
»Pscht, jetzt haltet doch mal endlich euren Mund!« Schadeck fuchtelte ärgerlich mit der Hand, stieg auf einen der Hussenstühle und legte den Kopf schräg. »Da ist noch was anderes«, sagte er schließlich. Er sah auf die anderen hinab. »Im Hintergrund.«
Verdammt. Jetzt hör ich’s auch , dachte Caspar, und Übelkeit stieg in ihm auf. Jetzt wusste er, wen er in der Aufregung vergessen hatte. Wessen gequälte Laute immer deutlicher durch die Haussprechanlage hallten. Vorhin, als er ihm so nahe gesessen hatte, hatte er ihn nicht erkannt. Jetzt, da sein Bellen aus weiter Ferne und durch Lautsprecher verfremdet zu ihm drang, war er sich sicher. Er hatte diese gequälten Laute schon einmal gehört, doch damals waren sie nicht aus einem Lautsprecher, sondern aus einem zerbeulten Unfallauto am Rande eines Flohmarkts gekommen. Caspar schloss die Augen, und das Winseln wurde lauter.
Es war wieder Sommer, und das silberne Wrack reflektierte die gleißende Sonne so stark, dass er sich die Hand vor die Augen halten musste, als er in seine Richtung sah. Die Räder waren alle gestohlen, und der kümmerliche Rest der verrottenden Limousine stand auf den nackten Felgen. Es gab nichts, was nicht bereits eingeschlagen gewesen wäre. Scheinwerfer, Heck-und Windschutzscheibe, die Seitenfenster, selbst der Kofferraum sah aus, als hätte jemand einen Kühlschrank darauf geworfen. Caspar hörte das ausländische Stimmengewirr im Hintergrund, das Lachen einer jungen Frau über einen gelungenen Handel und das stetige Hupen des Lieferverkehrs. Zwei verdreckte Kinder spielten im Rinnstein und verzogen sich, als er näher kam, um den groben Strick zu untersuchen, der den Kofferraumdeckel mit der Stoßstange verband. Er zündete die Fasern mit seinem Feuerzeug an, der Deckel schnappte nach oben, und dann blickte er dem Tod ins Gesicht. Vier Hunde. Welpen. Vertrocknet, verdurstet, innerlich verbrannt. Draußen herrschten etwa dreißig Grad. Im Kofferraum musste es mindestens doppelt so heiß sein. Sie waren eines langsamen, grausamen Todes gestorben. Alle bis auf einen, dessen linkes Auge ausgestochen war.
Der, den sie hier alle Mr. Ed nannten und der in diesem Moment ebenso qualvoll über die Hausanlage winselte wie in den Minuten vor seiner zufälligen Befreiung.
01.31 Uhr
Die Dunkelheit hatte eine klärende, fast reinigende Wirkung. Caspar hörte, roch und fühlte die unsichtbare Umgebung, durch die sie seit wenigen Sekunden schlichen, so intensiv, als würde die Empfangshalle mit einem Nebelscheinwerfer ausgeleuchtet. Der Seelenbrecher hatte alle Lichtquellen in diesem Bereich
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