Der Seelenbrecher
Taschenlampe, der in Richtung von Bachmanns Pförtnerbüro am Eingang zeigte. Caspar blieb stehen. Der Gang war zu schmal und der Fahrstuhl noch zu weit entfernt, als dass er aus seiner Perspektive einen Blick in ihn hinein hätte werfen können. Das Einzige, was er zweifelsfrei sah, war, dass es jetzt kein hölzerner Keil mehr war, der die Lichtschranke blockierte. Von den nackten Beinen ragten nur die Unterschenkel und Füße aus dem Aufzug heraus. Den Rest von Sophias Körper hatte der Seelenbrecher bereits in die dunkle Kabine gezogen.
03.13 Uhr – Außerhalb der Klinik
Der Sturm war löchriger geworden. Er schlug noch immer mit roher Brachialgewalt auf Dachschindeln, Fensterläden, Oberleitungen und jeden anderen ungesicherten Gegenstand ein, der sich ihm unvernünftigerweise in den Weg stellte. Doch hin und wieder setzte er aus, als müsse er Luft holen, um mit neugewonnenem Atem Fernsehantennen umzuknicken oder Bäume zu entwurzeln. Bei dieser Reise der Verwüstung war der Schnee weiterhin sein treuer Begleiter. Ein Komplize des Sturms, der seinen weißen Tarnmantel über die größten Schäden legte und sich jedem Zeugen ins Gesicht warf, der ihn bei der Zerstörung beobachten wollte.
Obwohl der Wind auf der Beaufortskala bereits um einen Punkt gefallen war, wagte sich zu diesem Zeitpunkt niemand aus dem Schutz seiner Wohnung. Es sei denn, er wurde dazu gezwungen, so wie Mike Haffner. »Der beste Job der Welt, Scheiße«, sagte er zu sich selbst, denn außer Haffner saß niemand in dem Schneeräumfahrzeug. »Winterdienst, ha!« Er schlug mit beiden Händen auf das Plastiklenkrad.
Er hatte es gewusst. Er hätte niemals auf Schwacke hören sollen. Der Kiffer konnte kaum einen Joint von einer Trillerpfeife unterscheiden, geschweige denn einen Nebenjob organisieren. »Zweitausend Euronen, Alter«, hatte Schwacke ihm vorgeschwärmt. »Die gibt’s garantiert, selbst wenn’s nicht schneit. Und wir alle lesen ja Zeitung, oder?« Dabei hatte er mit dem Mittelfinger sein Unterlid nach unten gezogen und ihm verschwörerisch zugezwinkert. »Klimakatastrophe, CO 2 , Treibhauseffekt, Alter. Bevor’s bei uns noch mal im Winter schneit, trete ich den An onymen Anabolikern bei.«
Haffner zog das Handy hervor, um seinen hirnverblödeten Grundschulfreund anzurufen und ihm Hodenkrebs zu wünschen. Nein, besser etwas Ansteckendes. Ebola zum Beispiel. Seinetwegen hatte er sich dazu überreden lassen, den sicheren Job in der Videothek zu kündigen, um in der Einsatzbereitschaft der privaten Schneeräumbeseitigung F. A. Wurm anzufangen.
»Wurm kommt auch bei Sturm« stand hinten auf dem Heck, und als vor zwanzig Minuten das Telefon geklingelt hatte, musste Haffner lernen, dass man den Slogan in dem Saftladen offenbar wörtlich nahm. »Solange das Räumgerät beim Fahren nicht umkippt, kannst du damit arbeiten«, hatte ihn der Einsatzleiter angeschnauzt. Und jetzt sollte er hier in diesem schwindsüchtigen Villenvorort irgend einem reichen Drecksack die Garage freiräumen.
Kein Empfang!
Mike warf sein Handy in den Fußraum und schaltete das Radio an, was auch nur mit Aussetzern funktionierte. Der Moderator hielt sich wohl für besonders witzig und hatte »Sunshine Reggae« aufgelegt. Oder der Musikredakteur war genauso verblödet wie Schwacke. Haffner ließ es trotz dem laufen, da man bei dem bronchitischen Dieseltuckern hier drinnen und dem Windgejaule da draußen ohnehin kaum etwas verstand. Er trat aufs Gaspedal und schlingerte blind um die Ecke einer Kopfsteinpflasterstraße. Bei der Suppe da draußen hätte er langsamer fahren müssen, andererseits wäre er dann auch leiser gewesen, und wenn er schon arbeiten musste, wieso sollten diese reichen Wohlstandssäcke ihren Schlaf genießen? Er gab weiter Gas.
Verdammt, Schwacke , dir hau ich die Nadeln von der Tanne, dachte er kurz, bevor es zum ersten Mal rumpelte. Scheiße.
Beim zweiten Mal gab es keinen Zweifel mehr. Bitte lass es einen Laubsack sein , dachte Haffner und hielt an.
Oder einen Ziegelstein.
Er warf sich gegen die Tür und fiel beinahe in den Sturm hinaus.
Es wird ja wohl kaum einer so bescheuert sein, jetzt spazieren zu gehen , dachte er noch und wurde wenige Sekunden später eines Besseren belehrt.
»Scheiße, wer bist du denn?«, brüllte er den Halbnackten an, der panisch mit den Händen fuchtelte, als er ihm mit einer Taschenlampe in das ausgezehrte Gesicht leuchtete. Es war nicht zu erkennen, ob er vor Schmerzen oder Kälte zitterte, als der Mann
Weitere Kostenlose Bücher