Der Seelenbrecher
einen Gegendruck zu seinem Herzen zu erzeugen, das mit jedem Schritt schneller schlug.
»Tom?«, brüllte Caspar. Er wollte dem Sanitäter seine Vermutungen mitteilen, von denen er hoffte, dass sie überhaupt einen Sinn ergaben.
Wenn er richtiglag, mussten sie nur auf den nächsten Zeitabschnitt warten, in dem Sophia wieder die Augen öffnete, und ihr dann das Lösungswort sagen. Wenn die psychischen Schäden, die sie bislang erlitten hatte, nicht zu schwer waren, würde sie dadurch die Kontrolle über ihr Bewusstsein zurückerlangen. Oder in einen gnädigen Schlaf fallen.
»Tom?«
Er erhielt wieder keine Antwort, obwohl er mit aller Kraft gebrüllt hatte.
Caspar bezwang endlich die letzte Stufe, und seine blutigen Füße hinterließen ihre ersten Spuren auf dem dicken, cremefarbenen Teppich des Empfangsbereichs. Hinter ihm knackte die Fahrstuhltür. Sie war nicht vollständig geschlossen und fuhr immer wieder einige Zentimeter auf und zu. Caspar überlegte, ob er den hölzernen Keil entfernen sollte, der den Aufzug blockierte. Allerdings verunsicherte ihn die Tatsache, dass aus der Kabine kein Licht in den Empfangsbereich fiel. Was also, wenn der Seelenbrecher genau auf diesen Moment wartete, um ihn aus der Dunkelheit heraus anzuspringen?
Er entschied, dass er Hilfe brauchte. Wo ist Tom? Bewaffnet nur mit einer Spritze, wollte er sich der unbekannten Gefahr nicht stellen. Caspar spähte hilfesuchend in den dunklen Gang hinein, der zur Bibliothek führte. Und weshalb steht die Tür da hinten offen?
Noch mehr jedoch wunderte sich Caspar über den funkelnden Gegenstand, der sich wenige Meter vor ihm zu drehen schien und in dem sich das flackernde Kaminlicht widerspiegelte, das aus dem Speisezimmer fiel. Dann, einen Schritt später, sah er, was dort umgekippt und verlassen im Flur lag. Es war Sophias Rollstuhl, dessen Speichenrad ganz langsam austrudelte.
03.12 Uhr
Ich bin Niclas Haberland.
Er bremste den Gummireifen mit dem Zeigefinger und kniff die Augen zusammen.
»Sophia?«, flüsterte er und schob mit dem bloßen Fuß die schwere Holztür weiter auf.
Ich bin Niclas Haberland. Arzt für Neuropsychiatrie. Seine Lippen bewegten sich wie die eines Kindes, das lautlos in einem Schulbuch liest.
Er wiederholte immer wieder den gleichen Gedanken, wie eine Beschwörungsformel, die das Böse abwenden sollte, das er in der Bibliothek vorzufinden glaubte. Ich bin Niclas Haberland. Arzt für Neuropsychiatrie und Experte auf dem Gebiet der medizinischen Hypnose. Die Finger schlossen sich fester um die Spritze in seiner Hand. Dann trat er ein. Sah die Gestalt vor dem Kamin. Und schloss die Augen.
Ich bin Niclas Haberland. Arzt für Neuropsychiatrie und Experte auf dem Gebiet der medizinischen Hypnose. Und ich habe einen Fehler gemacht.
Als er sie wieder öffnete, war sie immer noch da. Sie saß auf einem der Hussenstühle in der Nähe des rauchenden Feuers, und ihre Haut hatte die Totenblässe der erkalteten Kaminasche angenommen.
Greta Kaminskys Kinn ruhte auf ihrer Brust, ihre rechte Hand baumelte leblos nach unten, während die linke auf ihrem Schoß ruhte.
Sie wirkte so steif und unbeweglich wie eine Puppe, bei der es nur eines winzigen Lufthauchs bedurfte, damit sie sich zur Seite neigte.
Für einen Moment glaubte Caspar die alte Dame vom Stuhl rutschen und mit dem Kopf auf den Boden schlagen zu sehen, der wie der Rest ihres Körpers vor seinen Augen zu Staub zerfallen würde.
Er flüsterte ihren Namen, bewegte sich einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, unsicher, ob sich ihr Brustkorb hob und senkte oder ob das nur eine Illusion war, hervorgerufen durch das Flackern des Feuers hinter ihr. Tom? Yasmin? Wo seid ihr?, fragte er sich, während er nach einem Lebenszeichen suchte. Eine pulsierende Halsschlagader, ein Zittern ihrer violett angelaufenen Lippen. Irgendetwas.
Er stand nur noch eine Armlänge von ihr entfernt und ging in die Knie. Um sie nicht zu verletzen, legte er die Spritze auf den Teppich neben ihre Füße, sprach sie direkt an, und dann ging auf einmal alles viel zu schnell. Er konnte nicht sagen, ob er zuerst den Todesschrei und danach das metallische Knacken gehört hatte oder ob es umgekehrt gewesen war. Ihm war noch nicht einmal bewusst, wie er es so schnell wieder auf den Flur zurückgeschafft hatte. Zurück in Richtung Fahrstuhl, aus dem die erbarmungslosen Kampflaute drangen. Die Tür war jetzt etwas weiter geöffnet, und Licht schien heraus – der zitternde, dünne Finger einer kleinen
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