Der Seelenbrecher
seidenen Morgenmantel ließ sie sich so jetzt leichter über den Teppich in die Kammer hineinziehen. Gott sei Dank.
Im Gegensatz zur Bibliothek steckte hier noch der Schlüssel. Caspar zog ihn ab und verriegelte von außen die Tür. Erst jetzt merkte er, dass er am ganzen Körper unkontrolliert zitterte. Der einzige Unterschied zwischen seiner und Sophias Verfassung war jetzt nur noch seine Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen. Momentan hätte er noch nicht einmal um Hilfe rufen können. Insofern war es richtig gewesen, die letzte Kraft darauf zu verwenden, Greta in Sicherheit zu bringen. Bruck war einfach zu schwer. Mit ihm wäre er auf halber Strecke zusammengebrochen.
Weiter. Ich muss weiter.
Caspar zog den Schlüssel ab und versuchte, ob er auch in die Bibliothekstür passte. Natürlich nicht. Er hatte sein Glückskonto in der Sekunde aufgebraucht, in der sich der Seelenbrecher versehentlich die Spritze in den Fuß gerammt hatte.
Klack. Klack.
Wohin?
Er fühlte sich wie ein dehydrierter Marathonläufer auf der Zielgeraden, nur dass sich die erlösende Schlaufe, in die er sich am Ende eines gnadenlosen Spurts stürzen musste, immer weiter von ihm entfernte. Trotzdem lief er weiter, den Gang hinunter, bis er im Halbdunkel des Eingangsbereichs stand. Er sah sich um und konnte nichts erkennen. Weder Reifenspuren im Teppich noch einen Rollstuhl und erst recht keine Sophia. Wenn Schadeck sie hier ausgesetzt hatte, dann hatte Bruck seine Opfergabe bereits abgeholt.
Doch wo ist sie jetzt?
Klack. Klack. Klack.
Er sah nach vorne, zog mit beiden Zeigefingern seine Brauen nach hinten, um dadurch den Fokus seiner Pupillen zu verändern, doch selbst mit Kontaktlinsen hätte seine Sehschärfe nicht ausgereicht, um zu erkennen, was sich am anderen Ende des Flurs befand. Ein dichter Nebel aus Rauch und Tränen verschleierte seine müden Augen. Er glaubte, direkt hinter dem Wasserspender einen Lichtbalken zu sehen, der durch den Spalt einer angelehnten Tür fiel. Raßfelds Büro. Er überlegte, ob er stark genug war, um sich dorthin zu schleppen.
Aber wozu? Um Schadecks ausblutende Leiche zu finden? Um zu erfahren, mit welchen medizinischen Folterinstrumenten sich Bruck aus der Klinikapotheke noch bewaffnet hatte, bevor er Sophia verschleppte und zu ihnen in die Bibliothek gekommen war? Eines davon, das Skalpell, hielt Caspar ja gerade fest umklammert. Klack. Klack.
Er wirbelte herum, starrte in den Aufzug, und sein erster Impuls war, vor der Gestalt zu fliehen, die offenbar in der Dunkelheit auf ihn wartete und die ihm auf unheimliche Art vertraut schien.
Dank seines nur noch eingeschränkt arbeitenden Bewusstseins merkte er erst, als er die Hand hob, dass der Mann, der ihm von der Statur so sehr ähnelte, sein Ebenbild war.
Klack.
Er setzte einen Fuß nach vorne auf sein Spiegelbild zu, verhedderte sich in seinen Beinen und stolperte mit dem Kopf voran in die dunkle Fahrstuhlkabine. Etwas splitterte, und dem pulsierenden Ziehen in seinem großen Zeh nach musste es wohl die Scherbe einer ausgeschlagenen Glühbirne gewesen sein.
Klack.
Er sah auf die Anzeigetafel. Raßfelds silbrig glänzendes Schlüsselbund steckte in der Knopfleiste des Fahrstuhls. Caspar schossen die Tränen in die Augen, als er sah, was für einen Anhänger der Seelenbrecher dem Ring hinzugefügt hatte. Sophias Halskette baumelte wie das Pendel eines Hypnotiseurs vor seinen Augen und schlug ein letztes Mal gegen das Messingblatt.
Das Amulett. Er hat Sophias Schmuck als Trophäe missbraucht. Nein …
Caspar korrigierte sich.
Nicht als Trophäe. Sondern als Wegweiser. Statt einer Rätselkarte.
Caspar griff nach dem Perlmuttanhänger, und er fühlte sich feucht an, was aber auch an seinen schwitzenden Fingern liegen konnte.
Also gut. Jetzt gibt es ohnehin kein Zurück mehr. Er streckte den Arm aus und drückte auf ›minus zwei‹. Er glaubte, noch nie eine solche Finsternis erlebt zu haben wie in dem Augenblick, als sich die Türen schlossen.
03.31 Uhr
Auf seiner Fahrt zur Quelle der Angst konnte sich Caspar nicht daran erinnern, ob er gläubig oder Atheist war. Er meinte, früher gerne Kirchen aufgesucht zu haben, doch das musste lange her sein, denn ihm wollte kein Gebet einfallen, dessen Worte ihn jetzt hätten beruhigen können.
Er drückte mit den Fingern auf seine Augäpfel, um eine Reaktion seiner Sehnerven zu stimulieren. Normalerweise erzeugte er damit kaleidoskopartige Blitze, die in Regenbogenfarben vor seiner Netzhaut tanzten,
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