Der Seelenfänger (German Edition)
aufgebahrt sind. Die Bruderschaft von der Heiligen Madonna von Tindari richtet dort also eine Kapelle ein und zufällig hat mein Onkel Louie die elektrischen Leitungen verlegt. Und außerdem habe ich, ganz zufällig, von meiner Mutter gehört, dass die Sizilianer sich dort niedergelassen haben, weshalb Mr Rotella riskiert, es mit der Stadtverwaltung zu tun zu bekommen, weil er Leute in seinem Kellergeschoss unterbringt. Ich meine, noch lebende. Für Tote braucht man ja wohl keine Inspekteure vom Gesundheitsamt. Oh, schaut mal, da gibt es Schmalzgebäck! Willst du probieren, Sascha? Nein? Vielleicht später.«
Als sie schließlich in der 12 th Street ankamen, knurrte Sascha der Magen, und er fragte sich, wie zwei normal große Mädchen nur so viel essen konnten, ohne zu platzen.
»So, da wären wir«, sagte Rosalie. »Rotellas Leichenhalle! Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, was wir sagen, um ins Kellergeschoss zu kommen.«
Rotellas Leichenhalle hatte eine Fassadenbreite von zwölf Metern und nahm sich in dieser ganz gewöhnlichen Straße wie eine Geburtstagstorte für Riesen mit zweifelhaftem Geschmack für Süßes aus. Die Markise sah aus wie ein rosa- und silberfarbenes Baiser. Die Fenster aus buntem Glas schillerten in allen Regenbogenfarben und hätten gut auf den Rummelplatz von Coney Island gepasst. Die Fassade schließlich war mit so vielen grellen Terrakottafiguren vollgepflastert, dass man kaum glauben konnte, dass sich dahinter ein gewöhnliches Backsteinhaus verbarg.
Lily staunte. »Das ist wirklich, wirklich …«
»Ja«, hauchte Rosie und leckte sich die vom Schmalzgebäck fettigen Finger, »ist das nicht einfach großartig?«
Auch die Tür zur Kapelle war im gleichen Zuckerbäckerstil gehalten. Ursprünglich mochte sie eine schlichte Tür zum Kellergeschoss gewesen sein, aber dann war sie im Wert gestiegen. Als Sascha sie zuerst im Schatten des marmorierten Eingangsportals sah, glaubte er, die Tür sei aus getriebenem Silber.
Tatsächlich war das Material noch kurioser. Sie war nämlich über und über mit kleinen Votivtafeln bedeckt, die man offenbar planlos auf das Holz genagelt hatte. Das Blech überlappte sich überall und ergab ein wirres Flickenteppichmuster. Sascha erinnerte das an Tauben, die sich mit gesträubten Federn in der Gosse um ein Stück Brot balgten. Aus dem Blech der Votivtafeln hatte man Figuren getrieben, die bei näherem Hinsehen allesamt Körperteile darstellten: Beine, Füße, Hände, Ellbogen, Herzen, Nieren und Lebern, kurz alles, was einem Menschen echte oder eingebildete Schmerzen verursachen konnte.
»Die Leute befestigen diese Tafeln hier, um der Madonna für ihre Heilung zu danken«, erklärte Rosie. »Schaut mal, das ist von einem Mann mit einem Herzfehler, und das da ist der Dank dafür, dass ein Baby seinen Krupphusten losgeworden ist, und das, ich glaub es kaum, ist von einem Mann, den die Madonna von seiner Kahlköpfigkeit geheilt hat. Da scheinen sich noch mehr Kahlköpfige bedankt zu haben. Vielleicht sollte ich die Kapelle mal als Erfinderin inspizieren. Ein Mittel gegen Kahlköpfigkeit verspricht auf dem Markt gut anzukommen, habt ihr daran schon gedacht?«
Lily hätte sich beinahe an ihrem letzten Bissen Schmalzgebäck verschluckt.
»Können wir rein?«, fragte Sascha.
Als sie eintraten war es so dunkel, dass sie erst einmal nichts erkennen konnten. Dann sahen sie die Madonna und das ließ sie alles andere vergessen.
Sie stand am anderen Ende des Raumes auf einem alkovenartigen Podium, das wiederum mit den wunderlichen Silbertäfelchen bedeckt war. Sie funkelten im Kerzenschein und gaben der Madonna den Anschein, als flöge sie, aber nicht getragen von Engelsflügeln, sondern von den Füßen, Händen, Beinen und Herzen dankbarer Gläubiger.
Was Sascha am meisten beeindruckte, war das Gesicht der Statue. Als Rosie von der Schwarzen Madonna gesprochen hatte, war Saschas erster Gedanke gewesen, die Statue würde wie eine Farbige aussehen, wie er sie aus dem New Yorker Straßenbild kannte. Doch so war es nicht. Die Madonna sah aus wie eine Italienerin mit ihrem Kind, der man das Gesicht mit schwarzer Farbe angemalt hatte. Im Grunde sah es genau so aus wie das, was herauskommen musste, wenn man einen sizilianischen Bergbauern, der noch nie einen Schwarzafrikaner gesehen hat, bittet, die Statue einer Schwarzen Madonna anzufertigen. Es sah hanebüchen aus und doch, irgendwie flößte es auch Scheu ein, weshalb Sascha am liebsten nur geflüstert
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