Der Seelenfänger (German Edition)
schäbig, aber dann auch wieder exotisch und befremdlich.
Vor allem aber wirkten die Räume klein. Es war nicht mehr als ein Ladenlokal im Wohnviertel einer Riesenstadt, die aus zig Straßen und zig Vierteln bestand. Wer seine gewohnte Gegend satthatte, ging bis zur nächsten Straßenecke, bog einmal ab und dann noch einmal an der nächsten Straßenecke und kam nie wieder zurück. In New York konnte man das mit allem im Leben machen, auch mit seinem Jüdischsein. Menschen machten das täglich. Während Sascha hier im Schatten auf Rosie und Lily wartete, begriff er, dass auch er es wie diese Menschen machen könnte. Niemand würde sich ihm in den Weg stellen. Er war sich nicht ganz sicher, ob ihn diese Vorstellung begeisterte oder erschreckte.
Als Erste traf Lily ein. Sie schlich sich so lautlos heran, dass Sascha vor Schreck zusammenzuckte, als sie ihn am Arm berührte.
»Wem gehört diese Schule doch gleich?«, fragte sie.
»Lass diese Fragen einfach, abgemacht?«
»Oh, sind wir ein bisschen nervös heute Abend?«
»Ja, und du machst es mir nicht leichter.«
»Und du bleibst dabei, du tust, was du dir vorgenommen hast? Glaube nicht, du müsstest mich beeindrucken. Ein Wort von dir genügt, und wir gehen zu Inquisitor Wolf und sagen ihm alles.«
»Ich bleibe dabei!«, sagte Sascha trotzig.
»Schon gut, schon gut! Aber was ist mit Rosie? Wenn sie uns im Stich lässt …«
Doch da kam sie schon die Straße herauf.
»’tschuldigung!«, rief sie bereits von Weitem.
»Pst!«
»Tut mir wirklich leid, aber meine Mutter wollte einfach nicht ins Bett gehen. Ich wusste nicht, wie ich mich abseilen sollte, ohne dass sie es merkt. Und wie habt ihr das geschafft?«
»Meine Schwester springt für mich ein«, sagte Sascha schuldbewusst. »Meine Eltern glauben, ich sei in der Schul.« Was ja in gewisser Hinsicht auch stimmte. »Ich habe ein paar Stunden, bis sie den Schwindel merken.«
»Ein paar Stunden?«, fragte Lily. »Mehr nicht?«
»Oh, und wie hast du es geschafft?«
»Das war leicht. Meine Mutter gibt heute Abend einen Kostümball. Sie schickt mich immer ins Bett, wenn sie Gäste hat.«
»Schaut sie denn nicht nach, wie es dir geht, ehe sie selbst schlafen geht?«
Lily zog eine Grimasse. »So eine Mutter ist sie nicht.«
Unterdessen verließen Großvater Kesslers Schüler nach und nach die Schul. Zu zweit oder zu dritt gingen sie mit dem schlurfenden Gang von Männern, die seit dem Morgengrauen auf den Beinen waren, die Canal Street hinunter und streben den jüdischen Wohnvierteln entgegen.
Als auch der letzte Schüler das Gebäude verlassen hatte und die Lichter nach und nach ausgingen, wollte Rosie vorpreschen, doch Sascha hielt sie am Ärmel fest.
»Warte noch!«, flüsterte er.
Wenig später hörten sie Stimmen an der Tür – es waren Mo und Rabbi Kessler. Dann trat der alte Rabbi auf die Straße und schloss sich dem letzten Schüler auf seinem Heimweg an.
Blieb nur noch Mo übrig.
Der schien nun freilich mit dem Kehren und Putzen nicht fertig zu werden. Doch am Ende verließ auch der Schammes die Schul und begann, die Schlösser zu verschließen. Dazu brauchte er ewig, denn Mo musste sich bei allem zweimal vergewissern.
»Los«, flüsterte Sascha und zog die gestohlenen, nein, geborgten Schlüssel aus der Tasche.
Wahrscheinlich hatte Großvater Kessler die Schul seit dem Tag, als Mo aus Polen kam und sein Amt übernahm, nicht mehr selbst abgeschlossen. Die alten eisernen Schlüssel wollten einfach nicht ins Schloss und Sascha fürchtete schon, aus Versehen die falschen mitgenommen zu haben. Am Ende schaffte er es aber doch und nacheinander traten sie ein.
Im bleichen Mondlicht sah der ihm vertraute Raum ganz unheimlich und unirdisch aus. Er ging an den Schrank, in dem Mo die Kerzen verwahrte, nahm ein paar heraus, entzündete sie und stellte sie auf den wackeligen Tisch aus rohem Kiefernholz, an dem Großvaters Studenten den Talmud studierten. Die Kerzen flackerten auf und vertrieben die Schatten in die dunklen Ecken. Doch damit wurde die Stimmung nur noch unheimlicher und gespenstischer.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Lily.
Sascha memorierte noch einmal die Beschwörungsformel. Viele Wörter verstand er gar nicht. Der Umgang mit dem altertümlichen Hebräisch erinnerte ihn unangenehm an die Vorbereitung auf seine Bar-Mizwa. Vielleicht war er genauso schlecht bei der Dibbukbeschwörung, wie er es beim Auswendiglernen von Thoraversen gewesen war.
Fast hoffte er es sogar.
»Zuerst
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