Der Seelenfänger (German Edition)
wie Saschas Vater: kein Gebrüll, nur ein dröhnendes Schweigen. Einen richtigen Anbrüller hätte man freilich als Erleichterung empfunden.
»Geht zurück ins Präsidium«, unterbrach er sie, als sie ihm die Geschichte mit Antonio und den Kindern der Steinmetzfamilien erzählen wollten. »Vielleicht öffnet euch ein Tag lang Akten ordnen für Payton die Augen dafür, dass dies echte Arbeit und kein Kinderspiel ist.«
Sascha spürte sofort den verhaltenen Ärger in Wolfs Stimme und wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegten. Doch Lily machte einfach weiter.
»Aber …«
»Pardon, Miss Astral«, knurrte Wolf mit einer Stimme, bei der sich Sascha die Nackenhaare sträubten, »ich habe mich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt …«
»Aber …«
Wolfs eisiger Blick ließ Lily verstummen. Sie wich zur Tür zurück, noch ehe Wolf kommandierte: »Nun geht schon!«
»Und nun?«, fragte Lily, als sie durch das monumentale Eingangstor getreten waren und wieder auf dem Bürgersteig standen. »Wie werden wir jetzt Antonio finden?«
»Gar nicht. Hast du nicht gehört, was Wolf gesagt hat? Wir gehen zurück und helfen Payton bei der Aktenablage.«
»Aber er hat uns doch keine Gelegenheit gegeben, ihm von Antonio zu berichten. Er weiß nicht, dass es einen Augenzeugen gibt.«
»Lily«, sagte Sascha mit warnendem Unterton.
»Sieh’s doch mal so.« Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. »Wir tun doch nur, was Wolf uns zu tun aufgetragen hätte, wenn er wüsste, was wir wissen.«
»Lily!«
»Außerdem.« Lily hatte sich jetzt warmgeredet. »Außerdem sind Wolf die Hände gebunden. Hast du nicht gehört, dass Morgaunt ihm wegen Shen gedroht hat?«
»Lily! Herrgott noch mal!«
»Sascha, hast du nie
Boys Weekly
gelesen?«
»Hin und wieder«, gestand Sascha widerwillig. Er begriff, dass Lily nicht das Thema wechseln wollte, sondern ihn mit einem Trick in etwas hineinmanövrierte.
»Dann kennst du ja die Wildwestgeschichten.« Ihre blauen Augen leuchteten vor Begeisterung. »Es beginnt immer mit einer Gruppe verarmter Farmer. Gute Männer mit Grundsätzen, aber sie sind gebunden. Sie haben Frauen und Kinder zu ernähren und Hypotheken abzuzahlen. Wenn die Viehbarone sie dann von ihrem Land vertreiben wollen, können sie nichts tun. Aber dann« – und jetzt dämpfte sie ihre Stimme zu einem Flüstern –, »dann taucht der einsame Cowboy am Horizont auf. Er hat weder einen Namen noch eine Frau noch sonstige Verpflichtungen. Ein Held mit einem Pferd und einem Schießeisen. So einer kann es mit den Bösen aufnehmen, er braucht auf niemanden Rücksicht nehmen.« Sie nickte und gab Sascha einen Stoß vor die Brust. »Das sind wir. Der einsame Cowboy am Horizont, der Retter in der Not.«
»Aber wir sind doch zu zweit«, protestierte Sascha. »Es sei denn, du hältst mich für das Pferd. Und welche Rolle hat Wolf darin? Der verarmte Farmer?«
Trotz dieser Einwände gingen seine Füße wie von selbst Lily hinterher.
»Wie willst du Antonio also aufstöbern?«, fragte er nach einem halben Häuserblock. »Wir kennen doch niemanden in Little Italy.«
»Doch! Denk an Karotte!«
»Wenn du damit Rosie DiMaggio meinst, bist du bloß neidisch. Die meisten Leute würden ihr Haar als ›tizianrot‹ bezeichnen. Und ich glaube, die Farbe gilt als sehr attraktiv.«
Er sah Lily von der Seite an, um zu sehen, wie sie reagierte – und hätte beinahe losgelacht, als er ihre beleidigte Miene sah.
»Du hältst dich wohl für witzig«, versetzte sie. »In der Sprache unserer Kreise heißt dieser Farbton schlicht und einfach Orange. Und weißt du was? Ich habe gerade die Peitsche gefunden, die Miss Karotte dazu bringen wird, uns zu helfen!«
Wie sich herausstellte, war Rosie DiMaggios Zuhause ein renovierungsbedürftiges, aber überraschend großes Holzhaus in einem italienischen Arbeiterviertel, das aber deutlich wohlhabender zu sein schien, als es sich Saschas Familie hätte leisten können. Augenscheinlich ging es den DiMaggios nicht schlecht.
»Ich verstehe nicht, warum sie den Außenanstrich so verkommen lassen«, befand Lily kopfschüttelnd. »Man sollte ihnen sagen, dass regelmäßige Renovierungen langfristig gesehen billiger sind.«
»Was du nicht sagst«, meinte Sascha. »Hoffentlich ist Rosie nicht schon nach Coney Island aufgebrochen.«
Doch sie hatten Glück. Sie war – wie Mrs DiMaggio es ausdrückte – »zwischen zwei Engagements«.
»Das soll wohl heißen, dass man sie rausgeworfen hat, als die
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