Der Seelenhändler
schlagartig, und sie versprach, den Knaben, der zu diesem Zeitpunkt tief und fest schlief, zu sich zu nehmen.
Wolf war der Erzählung gebannt gefolgt.
„Ihr sagtet, Arnulf sei nicht dabei gewesen, als Ihr das Kind Agnes übergabt. Das heißt, Agnes übernahm das Kind, ohne mit ihrem Mann darüber gesprochen zu haben?“, unterbrach er nun die Tänzerin.
Mercedes zuckte mit den Schultern. „Ja, ich habe mich auch darüber gewundert. Aber so war es.“
„Hat Agnes Euch gegenüber nichts vom Inhalt des Briefes verlauten lassen?“
„Nein. Kein Wort. Aber an ihrem Verhalten merkte ich, dass er großen Eindruck auf sie gemacht hatte.“
Wolf dachte angestrengt nach. Bertram war ihm plötzlich in den Sinn gekommen.
„Sagt, Mercedes, hatte Agnes zu jenem Zeitpunkt nicht bereits ein Kind? Einen Jungen, etwa im gleichen Alter wie der Säugling, den Ihr überbrachtet?“
Die Tänzerin schüttelte den Kopf. „Davon weiß ich nichts. Als ich in ihre Hütte trat, sah ich kein anderes Kind.“
„Könnte Agnes schwanger gewesen sein?“, hakte Wolf nach. Mercedes zögerte. „Darauf habe ich nicht geachtet. Sie trug zwar einen weiten Umhang, als ich sie traf. Aber ob sich ein schwangerer Bauch darunter verbarg, vermag ich Euch nicht zu sagen. Allerdings, jetzt, wo Ihr fragt – es wäre durchaus möglich gewesen.“
Wolf dachte kurz nach und meinte dann: „Erzählt weiter! Was geschah danach?“
„Was weiter geschah? Nun, ich sah zu, dass ich so schnell wie möglich wegkam. Solange mein Liebling noch schlief. Ich weiß nur noch, dass ich Agnes unter Tränen anflehte, gut auf den Kleinen achtzugeben. Glaubt mir, es zerriss mir fast das Herz, als ich mich davonmachte. Doch es half alles nichts, ich musste zurück. Seitdem sah ich das Kind nie wieder“, schloss sie ihren Bericht. Im Gegensatz zu vorhin, als der Schmerz aus ihr herausgebrochen war, klang ihre dunkle Stimme jetzt matt; ein bitteres Lächeln lag auf ihren Zügen, und nach wie vor glitzerten Tränen in ihren Augen.
Wolf hatte zwischenzeitlich wieder die Arme um die angewinkelten Knie geschlungen. Stumm und ohne jede Bewegung saß er da. Das einzig Lebendige an ihm waren seine Augen, die in die Ferne zu schweifen schienen. In Wirklichkeit jedoch war sein Blick tief in sein Inneres, auf einen Kosmos intensiver Überlegungen gerichtet, dessen Mittelpunkt das tödliche Spiel bildete, das zu spielen er begonnen hatte und in dem der Schnitter sein Gegner war.
Dieser hatte er gerade einen neuen Zug gemacht – und das ausgerechnet auf jenem Teil des Brettes, auf dem Agnes, Paul und der „Eber aus Rieden“ standen. Doch Wolf hatte das unbestimmte Gefühl, dass er ihn damit narren wollte. Nicht nur, weil dieser Zug die Logik des Spielverlaufs empfindlich störte. Es war weitaus fataler. Wieder einmal konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob irgendeine der Figuren auf einem Feld zu stehen gekommen war, auf dem sie nichts zu suchen hatte …
Zum wiederholten Male begann er, die Situation zu analysieren. Vor fünfzehn Jahren war Paul, ein Kind unbekannter Herkunft, in Landsberg am Lech einer Tänzerin namens Mercedes übergeben worden. Von einer Magd namens Wiltrud. Mit der Bitte, es in die Obhut von Agnes und Arnulf zu geben.
Aber was war danach mit ihm geschehen? So, wie sich die Dinge jetzt darstellten, musste er davon ausgehen, dass Arnulf und Agnes das Kind an Hademar und dessen Frau weitergegeben hatten. Doch weshalb? Wolf versuchte, sich an die Zeit vor dreizehn Jahren zurückzuerinnern, als er ins Ennstal gekommen war und Arnulf und Agnes kennen gelernt hatte. Und Bertram, ihren Sohn. Der war damals gerade einmal zwei Jahre alt und das einzige Kind der beiden gewesen. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Hademar mit seiner Familie die Buchau verlassen. Vor einem Jahr wiederum – also vierzehn Jahre nachdem Mercedes mit dem Säugling auf dem Arm an die Tür von Arnulf und Agnes geklopft hatte – war Paul mit Hademar, seinem angeblichen Vater, unverhofft wieder aufgetaucht. Allerdings ohne seine Frau. Warum? Wo hatten sich die beiden all die Jahre über aufgehalten?
Dass Agnes und Arnulf um die wahre Identität des Jungen wussten, den sie entgegengenommen hatten, musste als sicher gelten. Immerhin hatte Mercedes nicht nur den Säugling, sondern auch einen Brief und die mit Leder verschnürten Gepäckstücke bei ihnen zurückgelassen. Je länger Wolf darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass sie das Geheimnis um die Identität des
Weitere Kostenlose Bücher