Der Seelenhändler
Anfang verdrängte ich ihn. Doch die Zeit ist unbarmherzig. Viel zu schnell vergingen die Tage, Wochen und Monate. Und dann kam der Herbst, und wir kamen im Tal der Enns an. Es war November, und ich wusste, die Zeit des Abschieds war gekommen.“
Erneut barg Mercedes das Gesicht in ihren Händen.
Wolf saß betroffen und hilflos neben der Frau. Jetzt erst begann er, ihre Reaktion zu verstehen. Es waren nicht Scham oder Furcht, die sie die Hände vors Gesicht schlagen ließen. Es war auch kein schlechtes Gewissen, das den Weinkrampf ausgelöst hatte. Die Tränen, die sie vergoss, waren die Tränen einer Mutter, die ihr Kind weggeben hatte – auch wenn sie nicht die leibliche Mutter gewesen war.
„Dann kam der Tag, an dem Ihr Euch von der Truppe trenntet. Und in der Folge die Nacht, als Ihr mit dem Kleinen im Kloster der Benediktinerinnen auftauchtet – verhielt es sich so?“, fuhr er mit der Befragung fort.
„Ja“, bestätigte die Tänzerin. Sie zog ein großes Tuch aus den Falten ihres Gewandes hervor, um ihre Tränen zu trocknen und sich zu schnäuzen. „Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Es war ein Freitag. Es regnete und stürmte den ganzen Tag über. Irgendwann musste ich eine kurze Rast einlegen, obwohl es bereits zu dämmern begann. Aber ich konnte einfach nicht mehr weiter; der Esel zeigte sich störrisch, und der Kleine quengelte. Also schlug ich mich seitlich in einen Wald, um uns und dem Tier eine kleine Pause zu gönnen. Ich nahm die Gepäckstücke vom Esel und band ihn an einen Ast. Plötzlich – gerade hatte ich den Kleinen versorgt und in eine Decke gewickelt – brachen zwei Männer durchs Gebüsch. Einer von ihnen hatte eine furchtbare rote Narbe, die sich übers ganze Gesicht zog. Sie forderten mich auf, ihnen alles zu geben, was ich bei mir hatte. Also gab ich ihnen das Geld, das ich in der Gürteltasche verwahrte. Als sie das Medaillon sahen, welches das Knäblein am Hals trug, wollten sie auch das haben. Ich gab es ihnen und war froh, dass sie die Packen nicht bemerkten, die für Wiltruds Schwester bestimmt waren. Die hatte ich nämlich zufällig hinter einen Baumstamm gelegt. Zuerst hatte ich Angst, dass die beiden Schurken mir noch Übleres wollten – aber dazu war es ihnen wohl zu kalt, und so verschwanden sie genauso schnell wieder, wie sie gekommen waren. Ohne einen Pfennig zog ich schließlich weiter. Den Rest der Geschichte kennt Ihr ja.“
Wolf sah sie nachdenklich und voller Mitgefühl an.
„Wohin brachtet Ihr den Knaben, Mercedes? Ihr habt mir immer noch nicht verraten, wo Wiltruds Schwester wohnte. Und wie sie hieß“, bohrte er weiter. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einer Antwort so entgegengefiebert zu haben wie dieser.
Aber die Tänzerin antwortete nicht sogleich. Schon glaubte Wolf, dass sie seine Frage gar nicht wahrgenommen hatte, da wandte sie bedächtig den Kopf und sah ihn an. „Wo Wiltruds Schwester wohnte? Nun, sie lebte in einer kleinen Hütte. Zusammen mit ihrem Mann und dessen Bruder. In einem abseits gelegenen Tal in der Buchau, zwischen Sankt Gallen und Admont. Als ich am Morgen nach jener schrecklichen Nacht weiterzog, traf ich auf einen Schweinehirten. Ich nannte ihm mein Ziel und fragte ihn nach dem Weg. Er sagte, es sei nicht mehr weit, und beschrieb ihn mir.“ Wieder machte Mercedes eine Pause.
„Nicht mehr weit wohin? Zu wem?!“, fragte Wolf voller Ungeduld, obwohl er die Antwort bereits zu kennen glaubte.
„Zur Schwester Wiltruds natürlich. Agnes hieß sie. Wiltrud hatte mir gesagt, ich solle einfach nach Arnulf dem Köhler fragen. Und nach Agnes, seiner Frau.“
Mercedes’ Antwort fuhr durch Wolf hindurch wie der Blitz in einen Baum. Obwohl er es geahnt hatte, konnte er es kaum fassen.
„Ist das auch wirklich wahr?“, flüsterte er heiser.
Die Tänzerin sah furchtsam zu ihm auf. „Warum fragt Ihr so, hoher Herr? Ich belüge Euch nicht.“
„Schon gut! Erzählt weiter! Ihr hattet also den Hirten nach dem Weg gefragt und zogt weiter. Was geschah dann?“
Diesmal musste sie sich nicht erst lange besinnen, bevor sie antwortete. In knappen Sätzen schilderte sie ihr Zusammentreffen mit Agnes, die sie allein angetroffen hatte. Arnulf und sein Bruder befanden sich in den Wäldern und sollten erst in ein, zwei Tagen zurückkehren. Anfangs hatte sich Agnes misstrauisch gezeigt. Doch dann erbrach sie das Siegel des Briefes, den die Schwester ihr gesandt hatte. Nachdem sie ihn gelesen hatte, änderte sich ihre Haltung
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