Der Seelenhändler
nicht der geringste Zweifel.
Gedankenverloren hob er einen kleinen Ast auf und stocherte damit ziellos in dem feinen Sand herum, der an dieser Stelle das Bachbett bildete.
Er beschloss, direkt zur Sache zu kommen.
„Ich will Euch eine Geschichte erzählen, Mercedes. Und ich möchte, dass Ihr mir genau zuhört“, begann er langsam, wobei er gedankenverloren seltsame Figuren in den Sand zeichnete. „Vor vielen Jahren irrt eine junge Frau in einer scheußlichen Novembernacht durch Regen und Wind. Oben im Ennstal. Es gießt in Strömen, es ist ungewöhnlich kalt, der Sturm ist so stark, dass er Bäume entwurzelt. Um es kurz zu machen: Für die junge Frau ist es die Hölle. Zumal sie einen schreienden Säugling bei sich trägt, in eine Decke aus weißem Leinen gewickelt. Sie besitzt nicht einen einzigen Pfennig mehr, weil sie das Opfer von Wegelagerern wurde. Also sucht sie nach einer kostenfreien Bleibe für die Nacht, wird aber überall abgewiesen. Immer noch toben Sturm und Regen. Da nimmt sie die Mauern eines Klosters wahr. Und eine Bresche in dieser, die wohl ein Baum in sie schlug, als ihn der Sturm entwurzelte. Verzweifelt steigt sie durch die Bresche in das Areal des Klosters ein. Es ist ein Haus der Benediktinerinnen. Dort endlich nimmt man sich ihrer und des Säuglings an. Am nächsten Morgen zieht sie weiter …“ Er hatte bis jetzt sanft und leise gesprochen, dabei die ganze Zeit über in das Bachbett gestarrt und mit dem Ast Spuren in den Sandgrund gezeichnet.
Plötzlich warf er den Ast mit einem kräftigen Schwung ins Wasser. „Und nun frage ich Euch Mercedes … wohin seid Ihr mit dem Säugling weitergezogen und vor allem: Wer war das Kind?“ Aus seiner Stimme war alle Sanftheit gewichen. Hart und schneidend war sie geworden. Ebenso wie sein Blick.
Doch beides nahm die Frau gar nicht mehr wahr.
Schon nach den ersten knappen Sätzen hatte sie, überwältigt von ihren Erinnerungen, entsetzt die Hände vors Gesicht geschlagen. Tränen rannen ihre Wangen herab und hinterließen feuchte Bahnen auf ihrer braunen Haut. Doch schnell wurde das Weinen heftiger und mündete in einen Krampf, der ihren ganzen Körper schüttelte.
Wolf hatte sich mittlerweile erstaunt erhoben. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Der Mund wurde ihm trocken.
Da nahm Mercedes die bebenden Hände vom Gesicht. Ihr gesundes Auge sandte einen Blick zu ihm empor, in dem Verzweiflung und Furcht lagen.
„Wer seid Ihr, hoher Herr? Woher wisst Ihr, dass ich in jener Nacht mit meinem kleinen Liebling unterwegs war?“, schluchzte sie leise.
Wolf war verblüfft.
„Euer kleiner Liebling? Es war also doch Euer Kind! Warum sagtet Ihr vorhin, Ihr hättet nie geboren?“
Unter Tränen lächelte die Frau. Es war ein schmerzerfülltes Lächeln, voller unerfüllter Sehnsucht.
Müde schüttelte sie den Kopf. „Nein. Ihr missversteht das Ganze. Es war nicht mein Kind. Es war … oh, mein Gott! … Ich wusste, dass es mich irgendwann einholen würde.“ Abermals übermannte sie der Schmerz und ließ sie erneut in Tränen ausbrechen.
Wolf setzte sich wieder. Behutsam legte er seinen Arm um die Schultern der Frau und versuchte sie zu beruhigen. Auch er war in höchstem Grade erregt. Doch erst als das Weinen nachließ und schließlich ganz verebbte, sah er sich in der Lage, das Verhör fortzusetzen.
„Mercedes, Ihr sagtet, dass Euch der Knabe nicht zu eigen war. Wer also war das Kind?“
Die Frau schwieg eine Weile, bevor sie antwortete. „Lasst mich von vorne beginnen“, sagte sie mit ihrer dunklen Stimme, „es ist besser so.“ Ihr Blick wanderte in die Ferne, zur Friesacher Burg hinüber, hinter der sich im blauen Dunst die Berge abzeichneten.
„Wir lagerten damals vor den Toren Landsbergs, das gegen den Lech hin liegt“, begann sie zu erzählen. „Der Juli war gerade zu Ende gegangen, und die Getreideernte hatte begonnen. Es war ein heißer Sommer in jenem Jahr. Gleich am ersten Tag des Augusts kam abends eine Magd zu uns ins Lager. Mit einem Esel. Es war schon spät. Sie hielt etwas im Arm, das wie ein Bündel aussah. Es war in ein Tuch aus Leinen gewickelt. Die Magd hieß Wiltrud. Ich kannte sie damals schon einige Jahre. Wir waren befreundet. Sie hatte mich einmal davor bewahrt, vergewaltigt zu werden, weshalb ich tief in ihrer Schuld stand. Immer wenn unsere Truppe nach Landsberg kam, und das war so zweimal im Jahr, trafen wir uns. Doch an jenem Tag war alles anders. Wiltrud machte einen Eindruck, als wäre sie vom
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