Der Seelenhändler
geheimnisvolle, tödliche Geschehen auf dem Schachbrett lediglich durch eine grausame Laune des Zufalls geraten und dabei irrtümlicherweise ums Leben gekommen.
Gleichzeitig nahm er entsetzt zur Kenntnis, dass das leer gewordene Feld nun von jemandem eingenommen wurde, von dem er bisher nicht im Entferntesten gedacht hatte, dass er auf das Brett gehörte: von Bertram – dem blonden Knaben, der nichts von seiner ungewissen Herkunft ahnte und die Tatsache, dass er noch lebte, nur einem Zusammentreffen glücklicher Umstände verdankte.
Natürlich gab es noch eine Reihe offener Fragen.
Die Sache mit dem Feuermal, zum Beispiel. Wolf war sicher, dass Bertram das Mal besaß. Auch wenn er, obwohl er über all die Jahre hinweg oft mit dem Knaben zusammen gewesen war, diese Tatsache bisher noch nie bewusst zur Kenntnis genommen hatte. Was aber nicht weiter verwunderte, zählte die Unterseite der rechten Zehe ja nicht gerade zu den exponierten Stellen eines Körpers, die sofort ins Auge springen.
Eine andere Frage beschäftigte ihn weitaus mehr. Die Mörder, die Häscher des „Ebers“ – war ihnen klar gewesen, dass sie mit Paul den Falschen erwischt hatten? Schließlich mussten sie irgendwann gesehen haben, dass seine Haare nicht blond, sondern schwarz waren.
Da fiel ihm plötzlich die Aussage Rudlins über den Inhalt des Gesprächs ein, das dieser belauscht hatte. Das Gespräch zwischen dem Anführer der Mörder und dem Mann, der Randolph hieß. Hier ist das kostbare Stück. Warum sich der Alte wohl gerade die Zehe ausgesucht hat? Wir hätten ihm ja auch was anderes abschneiden können! , hatte Randolph gespottet. Das musste die Erklärung sein. Sie hatten Paul die Zehe abgeschnitten, um sie dem Eber zu überbringen, ohne jedoch zu wissen warum. Und so, wie sie offenbar von der Existenz des Feuermals nichts wussten, waren sie wahrscheinlich auch in Unkenntnis über die Haarfarbe des „Ziels“ gewesen, das es zu liquidieren galt. Vielleicht, weil ihr Auftraggeber es nicht für notwendig gehalten hatte, es ihnen zu sagen. Denn natürlich war er nicht im Entferntesten davon ausgegangen, dass der einzige Junge in halbwüchsigem Alter, den sie in jener Nacht in Arnulfs Hütte antreffen würden, jemand anderer sein könnte als der, den er umbringen lassen wollte.
Je intensiver Wolf über alles nachdachte, desto mehr verdichteten sich seine Überlegungen zu einer umfassenden Theorie, die zum ersten Mal eine befriedigende Erklärung für das mörderische Spiel lieferte, das vor fünfzehn Jahren begonnen hatte:
Bertram war im zarten Säuglingsalter dem Köhlerehepaar anvertraut und von diesem all die Jahre hindurch als ihr Sohn großgezogen worden. Obwohl die beiden seine Abstammung kannten, hatten sie ihm diese verschwiegen. Ebenso, wie sie sämtliche Indizien, die seine Identität enthüllen konnten, versteckt hatten. In einem Erdloch vergraben, sollten sie dort verborgen bleiben, bis die Zeit gekommen wäre, dem Jungen seine wahre Herkunft zu offenbaren. Bis dahin beabsichtigten Agnes und Arnulf, ihn vor demjenigen zu schützen, von dem sie wuss-ten, dass er nach ihm suchen würde: vor dem „Eber in Rieden“. Fünfzehn Jahre lang war ihnen dies auch erfolgreich gelungen. Dann aber war es dem „Eber“, wie auch immer, geglückt, den Aufenthaltsort des Jungen ausfindig zu machen. Woraufhin er seine Häscher ausgeschickt hatte, um ihn töten zu lassen und sämtliche Beweisstücke an sich zu bringen, die seine wahre Herkunft belegen konnten.
Je länger Wolf sich die Einzelheiten dieser Theorie vergegenwärtigte, desto überzeugter war er, dass sie der Wirklichkeit entsprach. Denn sie erlaubte es, sämtliche Geschehnisse jener Mordnacht schlüssig zu erklären: Die Spuren, die er in der Hütte Arnulfs und an den Leichen wahrgenommen hatte. Die Tatsache, dass Arnulf und seine Frau in halbnacktem Zustand gezwungen worden waren, mit ihren Peinigern zu den Meilern hinüberzugehen, um ihnen das Versteck zu offenbaren. Das Versteck, das all das barg, was die Wahrheit über die Herkunft Bertrams enthüllen konnte. Und das die Mörder schließlich ausgeräumt hatten – bis auf jenen kleinen Lederbeutel, der die Brosche mit dem Eberkopf enthielt. Vorausgesetzt, dass er davon gewusst hätte, wäre dies der einzige Fehler gewesen, den der „Eber“ seinen Schergen hätte zuweisen können. Denn dass sie den Falschen getötet hatten, dafür konnten sie mit Sicherheit nichts.
An diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, wurde
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