Der Seelenhändler
Gürteltasche und zog die Brosche mit dem Eberkopf hervor.
„Wisst Ihr, was das ist?“, fragte er.
Sofort merkte er, dass er einen Treffer gelandet hatte, denn die Frau riss entsetzt die Augen auf. „Mein Gott!“, rief sie, „woher habt Ihr das? Das ist das Symbol, das das Leinen zierte, in das der Kleine gewickelt war. Und es war auch auf dem Medaillon, das er trug.“
Wolf runzelte nachdenklich die Brauen. „Sagt, Mercedes: Habt Ihr diesen umrankten Eberkopf außer auf dem Leinen und dem Medaillon sonst noch irgendwo gesehen?“
„Nein! Ich kann mich nicht daran erinnern.“ Sie schüttelte energisch den Kopf.
„Und Wiltrud? Habt Ihr sie jemals wiedergesehen?“
Mercedes’ Gesichtszüge nahmen einen ratlosen Ausdruck an.
„Nein. Obwohl ich mich danach sehnte, sie zu treffen. Um sie zu fragen, was aus dem Kleinen geworden ist. Vielleicht hätte sie es ja gewusst. Wiltrud hielt in all den Jahren bestimmt hin und wieder Kontakt zu ihrer Schwester.“
„Warum seid Ihr nicht einfach zu Agnes gegangen, um Euch nach ihm zu erkundigen? Schließlich liegen Admont und die Buchau näher als Landsberg?“
Sie zögerte. „Ist das so schwer zu verstehen?“, antwortete sie schließlich. „Ich hatte einfach Angst davor, den Jungen zu sehen. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie einer Mutter zumute ist, wenn sie nach Jahren das Kind vor sich sieht, das sie einst weggeben musste? Ich sagte es schon: Auch wenn ich nicht seine leibliche Mutter war – ich liebte es wie mein eigenes.“
Wolf verstand sehr wohl. Genauso wie er wusste, dass es für die Frau nicht einfach war, auf seine Fragen zu antworten. Mit umso größerer Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass sie auch weiterhin sehr gefasst wirkte.
„Ich möchte Euch noch eine Frage stellen, Mercedes. Besaß das Kind irgendwelche besonderen körperlichen Merkmale?“
Diesmal kam die Antwort schnell und zügig. „Ja. Ein Feuermal. Der Kleine hatte ein herzförmiges Feuermal an der Unterseite der rechten großen Zehe. Und für sein zartes Alter besaß er ungewöhnlich prachtvolles Haar – hellblond und lockig war es … ein wunderschöner Junge!“
Hellblond und lockig !
Eine der Schachfiguren in Wolfs Kopf fiel lautlos vom Brett und zerbarst mit unhörbarem Krachen. Wolf sprang auf.
Den Hinweis auf das Feuermal hatte er erwartet.
Aber nicht den auf das blonde Haar .
Ungläubig und völlig fassungslos bat er die Tänzerin, das zuletzt Gesagte noch einmal zu wiederholen.
Unsicher sah sie ihn an. „Herr, was ist? Was meint Ihr?“
„Die Haarfarbe. Welche Farbe, sagtet Ihr, hatte sein Haar?“ Seine Stimme klang völlig verändert. Entsetzen lag darin.
„Wie ich schon sagte: Es war blond“, wiederholte Mercedes. „Der Kleine hatte blonde Locken.“
„Blond! – Mein Gott!“, murmelte Wolf leise.
Ein ungeheuerlicher Gedanke war plötzlich in ihm aufgekommen, der sich in Bruchteilen eines Augenblicks zur Gewissheit verdichtete und mit brachialer Gewalt die Mauer des Irrtums zum Einsturz brachte, die ihm so lange den Blick auf das wahre Geschehen versperrt hatte. Auf die Wahrheit über den Säugling, der vor fünfzehn Jahren in der Hütte Arnulfs des Köhlers Zuflucht gefunden hatte!
Und der nicht Paul hieß – sondern Bertram!
Denn Paul, dem seine Mörder die Zehe abgeschnitten hatten, hatte nicht blondes – sondern schwarzes, glattes Haar gehabt!
Das Kind hingegen, das in die Obhut von Agnes und Arnulf gegeben worden war, besaß blondes, lockiges Haar.
Einen Haarschopf wie Bertram!
Der im gleichen Alter stand wie Paul!
Eine gewaltige Erregung ergriff Wolf.
Fassungslos schüttelte er den Kopf, fast so, als weigere er sich, das Ungeheuerliche zur Kenntnis zu nehmen. Dann ging er langsam einige Schritte flussabwärts. Dort, ein gutes Stück weit von Mercedes entfernt, ließ er sich erneut am Ufer nieder. Die erstaunten Blicke der Frau, die ihn mit wachsendem Unverständnis beobachtete, ignorierte er.
Er zwang sich zur Ruhe und rekapitulierte die letzten Bewegungen der Schachfiguren in seinem Kopf. Schlagartig wurde ihm bewusst, wie dramatisch sich die Situation verändert hatte und wie gründlich er sich hatte täuschen lassen. Es war nicht nur ein falscher Zug gewesen, der ihn genarrt hatte. Vielmehr erkannte er, dass der gesamte bisherige Verlauf des Spiels von einem Phantom dominiert worden war – von einer Figur, die mit dem eigentlichen Spielgeschehen nie wirklich etwas zu tun gehabt hatte: Paul, der Sohn Hademars, war in das
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