Der Seelenleser
wäre.«
Der Escalade pflügte sich langsam durch die Düsternis: ein fahrender Sicherheitskokon für ein Gespräch, das offiziell nie stattgefunden haben würde.
Die Frau wartete darauf, dass der Mann seine Gedanken gesammelt hatte. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt, und sie musste zu diesem Thema auch nicht mehr sagen, falls sie nicht gefragt wurde. Aufgrund ihrer zweiundzwanzigjährigen Berufserfahrung wusste sie, wie leicht es passieren konnte, dass man mehr sagte, als man sollte.
Der Mann war sogar noch länger als sie in diesem Geschäft, aber er war auch längere Zeit der Chef eines Unternehmens gewesen. » Currin«, sagte er. » Herrgott.«
Es war gleich, wie intellektuell oder wie mächtig man war: Niemand war immun gegen schlechte Nachrichten, die einem erst einmal den Wind aus den Segeln nahmen.
» Ich kann das nicht lange auf sich beruhen lassen«, sagte er. » Wenn es um ein Problem ginge, das nur ein Land betrifft oder nur die USA , dann könnte ich es eine Weile mit mir herumschleppen. Aber Currin, verflucht. Hatte dieser Kerl Zugriff auf alles?«
» Er brachte unglaublich gute Empfehlungen mit, als er zu uns kam, daher…«
» Hatte er Zugriff auf alles?«
» Ja.«
Der Mann schwieg. Der Escalade bewegte sie durch das Grau, rollte entlang der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit.
» Sie müssen mich auf dem Laufenden halten«, sagte er. » Verdammt, ich möchte alle paar Stunden von Ihnen hören.«
» Gut, ich verstehe«, sagte sie.
» Selbst wenn es nichts Neues gibt. Ich möchte wissen, was getan wurde, was getan werden wird, was Sie glauben, das getan werden muss.«
» In Ordnung.«
Der Mann war verärgert, hatte sich aber unter Kontrolle. Er blickte durch sein Fenster in die Nacht hinaus. Dort konnte er nichts sehen, außer seinem eigenen Spiegelbild, und auch das war in der Düsternis des getönten Glases schwer zu erkennen.
» Haben Sie so etwas schon einmal durchgeführt?«, fragte er, immer noch zum Fenster hinausstarrend.
» Nein.« Um ihm diesen Anflug von Arroganz nicht durchgehen zu lassen, fragte sie zurück: » Und Sie?«
» Nun, es war ein wenig anders, damals für die Regierung, nicht wahr? Da gab es… Parameter, die man einhalten musste.«
Sie hatte den Eindruck, dass er gerne mehr erzählt hätte, aber er tat es nicht. » In Ordnung«, sagte er schließlich und lehnte sich zurück. » Berichten Sie mir, was in dem Dossier über ihn steht.«
Die Frau begann zu reden. Sie war vorbereitet, sie war gut darin. Sie machte keine Fehler, sie ließ nichts aus– technisch gesehen.
Aber jede Erzählung war auch eine Übung in Interpretation, besonders in dieser Welt der Schatten. Obwohl die Frau leidenschaftslos und direkt berichtete und zum größten Teil die nackten Fakten präsentierte, gab es Stellen, an denen sie ein Wort sanft aussprach, um es zu betonen, oder an denen sie versuchte, durch subtile Implikation die Folgerungen des Mannes zu lenken. Und es gab andere Stellen, auf die sie nicht viel Zeit verwendete, wo sie einen Satz verkürzte, wo sie an manchen Punkten vorbeilavierte… und sehr sorgfältig ein kritisches Stück der Geschichte abkürzte.
Die Frau spann an ihrem Bericht, der Escalade surrte in den Nebel hinein.
Kapitel 8
» Das«, sagte Roma mit einem faszinierten Lächeln, » ist aber mal eine wirklich interessante Geschichte.«
Sie saßen in Fanes Auto. Er hatte begonnen, ihr Vera Lists Geschichte zu erzählen, während sie in seiner Küche Kaffee tranken, und kam erst zum Ende, als sie die Pacific Avenue entlangfuhren. Die dichte Wolkendecke nahm endlich einen weißeren Farbton an und würde schon bald aufreißen.
Roma saß auf dem Beifahrersitz und hatte einen kleinen Laptop auf dem Schoß.
» Das Schema ist äußerst komplex«, sagte Fane und bremste an einer Ampel. » Das ist das Erste, was bei mir die Alarmglocken auslöst. Hinzu kommt, dass die Sache schon viel zu lange läuft, ohne ein Indiz für eine der einfachen Lösungen zu liefern– sexuelle Perversion, Erpressung, Mord. Da steckt etwas anderes dahinter.«
» Ist sich Vera List dessen bewusst?«
» Oh ja, die Angelegenheit kommt ihr aus verschiedensten Gründen spanisch vor. Ich habe gestern mit Noble gesprochen. Er macht einen ersten Durchlauf für Dossiers über Currin und Cha. Bücher steht auch bereit, ich habe ihm gesagt, dass du ihn anrufst.«
An der Van Ness Avenue bogen sie nach links in Richtung der Bucht ab, und Roma tippte Veras Praxisadresse in ihren Computer ein. Die
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