Der Seelenleser
ließ die Hände sinken. » Was für ein Freak ist dieser Mann, wenn er solche Dinge weiß? Werde ich verrückt? Unter allen Möglichkeiten auf dieser Welt… Wissen Sie, er sagte, dass er an mich dachte, als er es sah! Wie kann das sein? Wie kann so etwas geschehe n ?«
» Sind Sie sicher, dass Sie diese Kindheitserinnerung ihm gegenüber nie erwähnt haben?«
» Oh ich bitte Sie.«
Vera wappnete ich. » Was glauben Sie denn, wie das kommt?«
» Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht, und das macht mir Angst. Es macht mir mehr Angst, als ich Ihnen sagen kann.«
Vera sah, was sie schon oft in Elise gesehen hatte: eine Frau, die eine komplizierte Mischung aus gebrochen und tapfer war.
» Vielleicht… Vielleicht drehe ich einfach durch«, sagte Elise. » Ich bin mir nicht sicher. Ich bin mir wirklich nicht mehr sicher.«
» Was meinen Sie damit?«, fragte Vera.
» Irgendetwas läuft hier ab«, sagte Elise. » Er ist irgendwie anders. Und es fühlt sich nicht… sicher an.«
» Falls sich die Beziehung verändert– warum glauben Sie, dass dies geschieht?«, fragte Vera. » Und warum glauben Sie, dass es so abläuft, wie es abläuft?«
Elise saß mit zusammengedrückten Knien da, die Hände im Schoß, wo sie die Taschentücher kneteten.
» Ich habe ihn gebeten, sich etwas zurückzunehmen«, sagte sie. » Mir mehr Raum zu geben, mehr Abstand. Und dann geschieht letzte Nacht dies. Es ist genau das Gegenteil von dem, worum ich ihn gebeten hatte.«
» Denken Sie, dass er das erkannt hat?«
» Ja, er weiß es.« Sie schien bekümmert und ratlos zu sein. » Früher war es so, dass seine Intuition mir einfach nur guttat. Er hatte so viel Verständnis für das, was er in mir sah. Aber ich begreife einfach nicht, was passiert ist.«
Sie blickte auf und neigte den Kopf zurück und dann von einer zur anderen Seite, um die steifen Muskeln in ihrem Hals zu dehnen. Als sie fertig war, schloss sie die Augen mit einem müden Schulterzucken.
» Ich verstehe es nicht«, fügte sie hinzu, » aber jetzt fange ich an, mich zu fragen, was ich alles in der ersten Zeit unseres Verhältnisses nicht gemerkt habe.«
» Was meinen Sie damit?«
» Ich vermute, seine Fähigkeit, sich in mich hineinzuversetzen, beschleunigte die Beziehung. Wir sind sehr schnell sehr tief hineingeschlittert.« Sie hielt inne und schaute an Vera vorbei auf die Palmen vor dem Fenster.
» Und?«
» Ich glaube, er hat mich von Beginn an manipuliert, und ich habe es einfach nicht bemerkt.«
Elise hatte Vera damit unbewusst die Gelegenheit gegeben, das Gespräch in eine neue Richtung zu lenken, die noch vor wenigen Minuten wie aus heiterem Himmel gekommen wäre. Jetzt war eine gewisse Logik da.
» Sie wissen nicht wirklich viel über ihn«, sagte Vera. » Warum waren Sie denn nie neugierig, mehr zu erfahren?«
» Wir hatten uns geeinigt, das Privatleben des anderen außen vor zu lassen. Es ging um uns. Nicht um andere.«
» Aber, wenn ich an unsere Gespräche über Ihre Affäre zurückdenke, dann ging es meistens um Sie, nicht um › uns‹.«
Vera ermahnte sich, vorsichtig vorzugehen.
» Sie haben sich geeinigt, sich einander zu offenbaren«, fuhr sie fort. » Aber ganz ehrlich– es scheint mir, dass Sie diejenige waren, die sich offenbart hat.«
Elise blickte Vera mit starrem Blick an, während ihre Gedanken die Monate zurückrasten.
» Was wissen Sie denn wirklich von ihm?«, hakte Vera nach. » Sie haben beide zugestimmt, das Privatleben des anderen außerhalb der Beziehung zu respektieren. Und doch: Wenn Sie den Verlauf Ihrer Beziehung untersuchen, stellt sich heraus, dass Sie ihn in Wirklichkeit zu einem erstaunlichen Maß an Ihrem Leben haben teilhaben lassen.«
Elise blickte zur Seite und sagte nichts. Vera fuhr fort.
» Falls ich Sie bitten würde, alles, was Sie über ihn wissen, aufzuschreiben: Ich würde wetten, dass Sie keine Seite damit voll bekommen.«
Wieder machte Vera eine Pause.
» Zum Beispiel haben Sie nie seinen Namen erwähnt.« Veras Herz klopfte heftig, als sie das Gespräch in die entscheidende Richtung lenkte. » Ich hatte angenommen, dass Sie seine Identität anonym lassen wollten. Aber jetzt frage ich Sie, ob Sie überhaupt seinen Namen kennen?«
» Ray Kern.«
» Und wissen Sie, ob das wirklich sein Name ist?«
Elises Augen schossen Blitze zu Vera.
» Mir ist nie die Idee gekommen, das anzuzweifeln.« Sie schüttelte langsam den Kopf. » Nein…« Sie zog eine Grimasse. » Verdammt, worauf habe ich
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