Der Seelenleser
mich da eingelassen?«
» Warten Sie«, sagte Vera. » Vergessen Sie nicht den Kontext Ihrer Situation. Bis vor Kurzem hat er Sie noch verwöhnt, er unterstützte Sie. Er war gut für Sie. Selbst wenn das von seiner Seite her eine Verschleierungstaktik war, ein Trick, um Ihr Vertrauen zu gewinnen, dürfen Sie sich keinen Vorwurf daraus machen, ihm geglaubt zu haben. Es wäre doch gegen die eigene Intuition, einem Mann gegenüber argwöhnisch zu sein, der Ihnen scheinbar nur Gutes will.
Jetzt allerdings hat sich alles geändert«, fuhr Vera fort. » Sie müssen sich der Tatsache stellen, dass irgendetwas komplett aus dem Ruder gelaufen ist.«
Bei ihrem ersten Gespräch mit Fane war die Lage noch so gewesen, dass beide Frauen leicht unruhig wegen der subtilen Änderungen in ihren Affären gewesen waren. Doch im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht hatte dieser Mann die psychische Anspannung extrem angezogen. Plötzlich hatte er den Beziehungen Grenzen gesetzt, und deren Ränder waren scharf. Die Situation war auf einmal mit deutlich höherem Risiko belastet als vorhergesehen. Jetzt kostete es Vera nicht mehr viel Mühe, sich vorzustellen, dass eine ihrer Klientinnen ermordet werden könnte. Es war entsetzlich.
» Diese Sache mit Ray…«, sagte Elise, ihren tränenlosen Blick in neuer Nüchternheit auf Vera gerichtet. » Falls es nicht das war, was ich dachte– was war es dann?«
Monatelang hatte Elise in einer Art magischer Liebesaffäre mit Ray Kern gelebt. Doch jetzt war all das zu etwas Verdrehtem geworden und die Magie einer ahnungsvollen Beklemmung gewichen.
» Was wollen Sie jetzt tun?«, nahm Vera ihre Frage wieder auf.
Elise antwortete nicht sofort. Während der Stunde, die sie schon miteinander redeten, hatte Vera mitverfolgt, wie sich Elises Ausdruck von verletzt und bestürzt zu bestürzt und entschlossen gewandelt hatte.
» Ich muss herausfinden, wer er ist«, sagte Elise. » Ich möchte wissen, warum er mir das antut. Und ich möchte wissen, wie er es macht.«
Die ersten beiden Teile von Elises Antwort waren genau das, was Vera hören wollte. Doch der letzte Teil bedeutete jede Menge Probleme; die Gründe dafür hatte Vera ja mit Marten Fane durchgesprochen.
» Und wie wollen Sie das machen?«
» Ich habe keine Ahnung, aber ich kann nicht einfach davor weglaufen…, als ob es nie geschehen wäre.«
» Was ist, wenn er mit Ihnen spielt, Elise? Was, wenn er einen dunklen Plan hat? Erpressung?«
» Das würde mich umwerfen.«
» Sie können es sich nicht erlauben, sich umwerfen zu lassen. Sie müssen sehr vorsichtig in Ihrem Umgang mit diesem Mann sein.«
Elise nickte.
» Sein plötzlicher Verhaltenswechsel hat Sie überrascht. Eine Reaktion auf das, was Sie als Nächstes tun, könnte Sie wieder überraschen. Es könnte hässlich werden.«
Vera konnte es nicht über sich bringen, ihre schlimmsten Befürchtungen auszusprechen.
» Ich verstehe das«, sagte Elise, » aber ich muss herausfinden, was hier los ist. Wie zum Teufel könnte ich das alles ignorieren?«
» Ich werde Ihnen einen Vorschlag machen«, sagte Vera. » Ich weiß von einer Frau, die in einer Situation war, die dieser nicht ganz unähnlich ist. Sie hat jemanden gefunden, der ihr helfen konnte. Ich werde Kontakt zu ihr aufnehmen.«
Vera war erleichtert, dass Elise eine aggressive Haltung gegenüber Ray Kern an den Tag legte. Das würde es für Fane einfacher machen, mit ihr zu arbeiten. Aber sie war auch überrascht. Elise war hart im Nehmen, was aber nicht gleichbedeutend mit einem besonders nachdrücklichen Charakter war. Vera hatte sie vorher noch nie so konsequent erlebt.
Auch Lores Reaktion war für sie eine kleine Überraschung gewesen. Während sie sich in der Öffentlichkeit als mitfühlende, direkte und unabhängige Frau präsentierte, hatten die Begegnungen mit Philip Krey sie erschüttert. Anstatt auf Kreys zunehmende Bosheit mit Streitlust zu reagieren, wollte sie verzweifelt vor ihm fliehen.
Für Vera war es ernüchternd zu sehen, wie diese zwei angeschlagenen Frauen in Anbetracht der Manipulationen dieses Mannes ihren Charakter änderten. Das alles sprach für die Macht von Kerns/Kreys Persönlichkeit und den Einfluss, den er auf sie hatte. Und es war erschreckend. Was für ein Mann konnte solch einen Effekt auf diese zwei so unterschiedlichen Frauen haben? Und was war die Absicht dahinter?
Kapitel 21
Um halb drei summte Fanes BlackBerry. Vera war mit ihrer Sitzung mit Elise fertig und mit den Nerven am
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