Der Seelenleser
Küche betrat, füllte sie den Teekessel wieder mit Wasser auf.
» Vielleicht wäre eine Tasse Tee doch keine so schlechte Idee«, sagte er. Sie nickte und stellte die Flamme unter dem Kessel an.
Sie setzen sich ins Arbeitszimmer mit Tee, den keiner von ihnen wollte. In der ganzen Wohnung brannte kein Licht, und die anbrechende Dunkelheit saugte die Farben aus dem Raum und machte ihn fahl.
Obwohl Fane das Thema behutsam anging, brachte er die Sprache direkt auf den Mord an ihrem Ehemann. Sie schien nicht wirklich überrascht zu sein, dass er über den Tod ihres Mannes Bescheid wusste. Sie nickte, und es war für einen Augenblick still.
» Es war einfach unbegreiflich zu hören, dass Stephen tot sei«, sagte sie. » Der Polizist, der mir die Nachricht überbrachte, war viel zu jung. Das ist das, was bei mir hängengeblieben ist: dass er noch viel zu jung war, um mir solch eine Nachricht zu überbringen. Danach war ich für eine Weile der Mittelpunkt meines Universums. Außer meinem Kummer war mir alles egal. Es war, als ob sich eine Glocke über mich gesenkt hätte. Irgendwie unbeschreiblich.«
» Wann war das?«
» Diese Woche ist es neun Monate her.«
» Man hat nie jemanden verhaftet?«
» Ich glaube, sie hatten noch nicht einmal einen Verdächtigen.« Sie zögerte. » Aber um ganz ehrlich zu sein, hat es für mich keine hohe Priorität, dass sie die Person › erwischen‹, die Stephen getötet hat.«
» Wie meinen Sie das?«
» In einem größeren Gesamtbild gesehen sind für mich › Abschließen des Falles‹ oder › Gerechtigkeit‹ oder › Rache‹, wie man es auch nennen will, keine unabdingbaren Voraussetzungen, um in der Lage zu sein, mein Leben weiterzuführen. Was mich betrifft, hat ihn ein Blitz getroffen. Es war genauso zufällig und genauso sinnlos.«
» Sie haben die polizeilichen Ermittlungen damals deswegen auch nicht genau verfolgt?«
» Ich habe sie gar nicht verfolgt. Das psychische und moralische Gewicht von Stephens Tod hat sich der Mann aufgebürdet, der den Finger am Abzug hatte. Es darf sich nicht zu einer Belastung für mich entwickeln. Mein Kummer wird nicht davon beeinflusst, was mit Stephens Mörder geschieht. Die beiden Dinge sind nicht miteinander verbunden. Und ich weiß, dass meine Sorgen weder einzigartig noch von allgemeinem Interesse sind. Nur für mich sind sie etwas Besonderes. Und daher versuche ich, sie für mich zu behalten.«
Sie hielt kurz inne, den Blick weiterhin direkt auf Fane gerichtet, als ob sie dadurch verhindern wollte, dass er sich nach innen kehrte.
» Aber eines kann ich Ihnen sagen«, fuhr sie fort. » So schwierig Stephens Tod für mich auch war, meine echte moralische Konfrontation mit einem sinnlosen Tod kam ein paar Monate später. Und das hatte nichts mit Stephen zu tun.« Sie hob ihre Tasse an die Lippen, ohne daran zu nippen. » Ist schon kalt«, sagte sie.
Fane bemerkte die doppelte Bedeutung ihrer Worte. Es war für ihn fast unerträglich, Veras beinahe kalte Einstellung zum Tod ihres Mannes zu erleben. Er wusste, was sie tat– und warum. Dana war nur wenige Monate vor Stephen List gestorben, und auch jetzt noch würde er lieber vortäuschen, dass er tapfer mit der Sache umgegangen war, als gegenüber anderen– oder sogar sich selbst– zuzugeben, wie klaffend die Wunde noch war, wie dicht unter der Oberfläche der Schmerz saß. Daher war er nicht überrascht, als Vera das Thema abrupt wechselte und zu etwas anderem überging.
» Britta Weston war vier Jahre lang meine Klientin gewesen«, fuhr Vera fort. » Eines Abends ging sie alleine ins Kino, was sie oft tat, wenn ein ausländischer Film gezeigt wurde. Ihr Ehemann mochte sich nicht mit Untertiteln herumärgern. Danach fuhr sie zu einer abgelegenen Ecke im Presidio, nahm eine hohe Dosis an Pethidin und begann, Wodka zu trinken. Sie hinterließ einen verletzenden Abschiedsbrief, in dem sie mich bezichtigte, ihr Leben ruiniert und sie in den Selbstmord getrieben zu haben.«
Fane war überrascht, sagte aber nichts dazu.
» Die polizeiliche Ermittlung bestätigte, dass es sich um einen Selbstmord gehandelt hatte«, sagte Vera. » Aber es ging mir an die Substanz, dass in all unseren Sitzungen im Verlauf der Jahre überhaupt nichts zur Sprache gekommen war, was es mir ermöglicht hätte, das vorherzuahnen. Es gab in ihrer Analyse überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür. Kein Verhalten, das als Anzeichen hätte dienen können. Es kam… einfach so aus dem Nichts. Was ihre Anklage
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