Der Seelenleser
verstehen– oder mir zumindest vorstellen zu können–, was hinter diesen dramatischen Veränderungen steckt.)
Doch unabhängig davon: Auch seine unheimliche Fähigkeit, bis in die weichste Mitte ihres Schmerzes vordringen zu können, scheint sich zu verändern und wirft deutlich dunklere Schatten. Leider habe ich es nicht geschafft, diese neuen Entwicklungen als das zu erkennen, was sie sind, nicht schnell genug gesehen, wofür sie ein Vorbote sind. Daher hat mich diese jähe, ins Grausame gehende Wendung völlig überrascht. Es macht mir Angst, auch wenn ich das gegenüber Jane8 nicht zugegeben habe.
Ich hatte schon eine Weile das Gefühl, etwas läuft schief, aber sie wollte nicht näher darauf eingehen. Und jetzt ist etwas Schreckliches geschehen.
Heute erzählt mir Jane8 von RK und dem Glasvogel. (Siehe Sitzungsprotokoll.) Sie ist absolut traumatisiert. Es war eine unvorstellbar hinterhältige Tat von ihm, doch das ist nicht alles: Die Frage, wie er darauf gekommen sein könnte, dass dieses Symbol für sie eine solche Wichtigkeit hat, zerrt extrem an ihren Nerven. Sie schwor zwar, dass sie es nie erwähnt habe, aber ich konnte an ihren Augen ablesen, dass sie begonnen hat, an sich selbst zu zweifeln: Hatte sie es doch getan und dann vergessen? Aber wie konnte man so etwas vergessen?
Heute hat sie sogar über die » besonderen Kräfte« von RK gesprochen. Der Ausdruck zeigt mir, dass sie beginnt, nach Erklärungen zu suchen, die über das Nachvollziehbare hinausgehen. Ich halte das für eine gefährliche Wendung, es kann bedeuten, dass sie beginnt, sich von der Realität abzugrenzen.
Ihre sich rasant steigernde emotionale Instabilität ist eine Art Implosion… eine plötzliche und schwerwiegende. Zum ersten Mal, seit sie zu mir kommt, habe ich Angst, dass sie sich dem Geisteszustand annähert, der ihrem Selbstmordversuch vor zweieinhalb Jahren vorausging.
Ich bin von diesem plötzlichen Umschwung schockiert. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich habe mich mehrmals mit Dr. S.J. über diese Entwicklung beraten, und wir sind uns einig, dass ich Jane8 sagen muss, dass ihre Beziehung zu RK alarmierend zerstörerisch wird und dass sie aufhören sollte, sich mit ihm zu treffen.
Eine Sache noch zum Abschluss: Heute erzählte mir Jane8 von einem Traum, den sie letzte Nacht hatte, also der Nacht nach dem Vorfall mit RK und dem Glasvogel. (Der Traum ist so erschreckend eindeutig, dass er kaum eines weiteren Kommentars bedarf.)
Jane8 und RK fahren in der Nacht auf einer Landstraße. Die Straße ist eng, mit weit ausholenden Kurven, von beiden Straßenseiten steht der Wald drängend dicht bis an den Fahrbahnrand. Als sie eine lang Kurve hinter sich gebracht haben, erscheint etwas in der Mitte der Fahrbahn, hinter der Reichweite der Scheinwerfer. RK fährt langsamer, und im Näherkommen können sie erkennen, dass das Objekt ein schwarzer Holzstuhl mit hoher, geschlossener Rückenlehne ist. Sie fahren dicht heran, bis der Stuhl direkt vor ihnen im Scheinwerferlicht steht.
Aus irgendeinem Grund erschreckt der Stuhl Jane8. RK dagegen scheint absolut ruhig zu bleiben, als ob er alles verstehen würde. Jane8 hat keine Ahnung, welche Bedeutung der Stuhl hat, sie weiß nur, dass er auf sie bedrohlich wirkt. RK sagt ihr, dass sie im Auto bleiben solle, steigt aus und geht im Scheinwerferlicht zu dem Stuhl. Er dreht sich zu ihr um und zeigt ihr durch Gesten an, dass sie genau aufpassen soll, was er ihr gleich zeigen wird.
Er setzt sich auf den schwarzen Stuhl, sodass er sie direkt anschaut. Er hält die Knie zusammen und sitzt aufrecht; das grelle Leuchten der Scheinwerfer scheint ihm nichts auszumachen. Er nimmt etwas aus der Jackentasche seines Anzugs und steckt es sich in den Mund. Dann nimmt er etwas aus der anderen Tasche – eine Pistole. Er schaut ihr direkt in die Augen, beugt den Arm, hält die Pistole an seinen Kopf … und erschießt sich. Rosafarbener Sprühnebel wird von den Strahlen der Scheinwerfer kurz erfasst, bevor er von der Dunkelheit verschluckt wird.
Jane8 ist davon nicht erschreckt, und auch nicht davon, dass RK danach wieder aufsteht. Sein Kopf ist auf der einen Seite weggesprengt, ein Stück Schädel hängt noch hinter dem einen Ohr. Er kommt zum Auto zurück, öffnet ihre Tür, und sie steigt ebenfalls aus. Die Nachtluft draußen ist frostig. Sie ergreift RK s Hand, geht mit ihm zusammen zu dem Stuhl und setzt sich. Sie hält die Knie zusammen und sitzt aufrecht; das grelle Leuchten der
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