Der Seelenleser
Einsamkeit.
Plötzlich fiel ihr Elise ein. Als sie am Abend Veras Praxis verlassen hatten, waren sie in der Eingangshalle noch einmal kurz stehen geblieben, und Lore hatte aus einem Impuls heraus Elise ihre Nummer gegeben. Elise war zuerst erstaunt gewesen, schien aber dankbar zu sein. Dann gab sie Lore auch ihre. Es war ja durchaus sinnvoll, dass sie sich gegenseitig erreichen konnten. Durch das Geschehen hatten sie eine Verbindung, und das war wichtig– besonders zu einer Zeit, wo alles andere unsicher war.
Sie setzte sich im Schneidersitz auf und knüllte das Bettlaken in ihrem Schoß zusammen, achtundzwanzig Stockwerke oberhalb der Bay Bridge. Sie ließ den seltsamen Nachmittag Revue passieren– wie sie und Elise abwechselnd mit Vera zusammensaßen und ihr Herz über diesen verdammten Schleicher Kroll ausschütteten.
Dann war da noch Townsend, der auf seine Weise ebenso gut aussehend und ausweichend wie Kroll war, aber nicht dessen höllische, dämonenhafte Art hatte. Der Kerl war ein Rätsel, aber Vera vertraute ihm, und Lore vertraute Vera. Trotzdem blieb in ihr ein Rest Argwohn ihm gegenüber.
Welches Gefühl hatte Elise bei Townsend? Hatte sie ihm ebenso viel über ihre Beziehung mit Kroll erzählt, wie sie es getan hatte? War Elises Beziehung zu Kroll anders gewesen als ihre eigene? Townsend hatte ihnen berichtet, dass Kroll Veras Mitschriften verwendet hatte, um seine Affären mit ihnen entsprechend anzupassen. Was zum Teufel hatte Kroll im Sinn?
Verdammt, die ganze Geschichte war so unglaublich abgefahren.
Sie griff zum Nachttisch hinüber und nahm sich ihr Mobiltelefon. Sie tippte die Telefonnummer ein.
» Hallo?« Die Stimme war belegt. Gerade aufgewacht? Angetrunken?
» Ich bin es, Lore…«
Ein Zögern am anderen Ende der Leitung, dann: » Oh ja, natürlich.«
» Ich hatte das Gefühl, wir beide müssten reden.«
Das Lokal befand sich an der Ecke Sutter Street und Larkin Street und war nicht nur eines der wenigen Grillrestaurants, die bis spät in die Nacht noch geöffnet hatten, sondern lag auch ziemlich genau in der Mitte zwischen Lores Wohnung in Rincon Hill und Elises in Pacific Heights.
Sie hatten sich an einen Tisch an der Fensterfront zur Straße hin gesetzt, abseits von allen anderen Gästen, zum Glück waren nicht mehr viele Leute da– nur noch wenige Pärchen und die üblichen Einsamen am Tresen. In einer Stunde würde auch hier Feierabend sein.
Sie bestellten Kaffee und begannen zu reden. Auch wenn sie nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung hatten, verlief ihr Gespräch in einem gewissen Prozess: erst Verallgemeinerungen, dann, nachdem ein gewisses Vertrauen aufgebaut war, das langsame Einkreisen spezifischer Themen. Es dauerte nicht lange, bis sie sich entspannten und einfach drauflosplauderten. Die Erleichterung über die Entdeckung, dass sie jeweils mit ihrem Kroll-Albtraum nicht alleine waren, sorgte dafür, dass sie gar nicht aufhören konnten, ihre Erlebnisse miteinander zu teilen. Sie waren die einzigen Mitglieder einer Gruppe von Überlebenden, eine Schwesternschaft mit nur zwei Schwestern.
Doch die Erlebnisse waren nicht für beide gleich gewesen, und dies war Elise stärker bewusst als Lore. Krolls Täuschung bedeutete für sie einen Schmerz, der tiefer ging, als Lore verstehen konnte. Es war ein Stich direkt ins Herz, und auch alles Objektivieren konnte Elise nicht heilen.
Nach einer kurzen Gesprächspause fasste sich schließlich Lore ein Herz: » Eine von uns muss noch einmal in die Nähe dieses Bastards kommen.«
Elise nickte. Sie hatte bisher nicht zugelassen, sich darüber Gedanken zu machen.
» Und Townsend«, fuhr Lore fort, » vertraust du ihm?«
» Ja, das tue ich.«
» Ich auch.« Lore warf einen Blick durch das Lokal » Aber… weißt du, er hat uns noch nichts darüber gesagt, wie er Kroll wirklich loswerden will, oder? Dabei ist das der Hauptgrund, warum ich Townsend alles erzählt habe– kennst du eigentlich seinen richtigen Namen?«
Elise schüttelte den Kopf.
» Jedenfalls, wo war ich gerade? Ach ja– ich will diesen Kerl aus meinem Leben bekommen. Wie will Townsend das anstellen? Bisher ist die ganze Sache ja irgendwie im Eiltempo gelaufen, ich weiß. Aber was macht er als Nächstes?«
» Ich vermute, dass er einfach einen Schritt nach dem anderen machen will«, sagte Elise. » Wir müssen die gestohlenen Unterlagen zurückbekommen. Mir wird ein riesiger Stein vom Herzen fallen, wenn ich weiß, dass Kroll sie nicht mehr in der Hand
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