Der Seelenleser
zurückgekehrt war, konnte er sich nicht rühren, und er musste warten, bis sich sein Herzschlag wieder so weit reguliert hatte, dass er durchatmen konnte.
Er zwang sich, auf die Uhr zu schauen. Es war nur ein kurzer Moment gewesen. All das hatte sich in einem einzigen Augenblick zugetragen.
Doch der Schweiß war echt, und die Regenschicht hattesich wieder verflüssigt und rann die Glasscheibe hinunter.
Er stand schnell auf, um ein Engegefühl zu bekämpfen, das Gefühl, nicht genügend Sauerstoff aus der Luft atmen zu können.
Unerklärlicherweise und gänzlich gegen seinen Willen spürte Kroll, dass er langsam in das große Maul der Ungewissheit hineingezogen wurde, in das düstere Heiligtum seines schlimmsten Feindes: des Selbstzweifels.
Kapitel 39
Die letzten zweieinhalb Stunden waren für ihn vergangen, als ob er sich reines Adrenalin gespritzt hätte. Als Kroll schließlich im kalten Regen die steile Sacramento Street zum Fairmont Hotel hochstieg, waren seine Beine etwas wacklig. Aber es war ihm gelungen, sich durch seinen Argwohn hindurchzukämpfen. Danach hatte er sich erst einmal wieder beruhigen müssen, die Kontrolle zurückerlangen.
Es war für ihn unvorstellbar, das Treffen im Fairmont Hotel nicht wahrzunehmen, obwohl irgendetwas an der ganzen Geschichte nicht glaubhaft klang und alles, was er in seiner Ausbildung je gelernt hatte, ihn drängte, die Aktion sofort abzubrechen und sich aus dem Staub zu machen. Aber irgendetwas an seinen sorgfältig ausgetüftelten Plänen hatte nicht funktioniert, und er musste herausfinden, was und warum. Das Telefongespräch, das er vorhin mit Elise gehabt hatte, passte einfach nicht zu dem, was er in Veras Notizen gelesen hatte. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wo der wirkliche Unterschied zwischen diesen beiden Eindrücken lag. Seine Neugier hatte die Oberhand über die Disziplin gewonnen… und über die Vernunft.
Fane hatte Elise erklärt, dass sich eine Frau namens Libby im Hotel befinden würde, um ihre Unterhaltung mit Kroll zu überwachen, und dass der Rest der Überwachungsmannschaft sich in den Straßen um das Hotel herum verteilen würde.
Doch als sie jetzt von der California Street auf die Mason Street abbog und ihren Mercedes in die Wagenauffahrt des Hotels lenkte, war Elise kurz davor, zu hyperventilieren. Allein der Gedanke, Kroll wieder von Angesicht zu Angesicht zu treffen, raubte ihr den letzten Nerv. Es schien eine Ewigkeit her gewesen zu sein, obwohl erst drei Tage vergangen waren, seitdem er ihr das Geschenk gegeben hatte, und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich benehmen sollte– und würde.
Die Hoteldiener waren um diese Uhrzeit sehr beschäftigt, weil immer wieder Leute in Gruppen das Hotel verließen, um ins Restaurant zu gehen. Andere kamen, um mit Freunden Cocktails zu trinken. Es war das Ende eines Arbeitstages und der Beginn des gesellschaftlichen Nachtprogramms.
Elise gab dem Hausdiener ein gutes Trinkgeld und bat ihn, den Mercedes in der Nähe in Bereitschaft zu halten. Dann betrat sie die grandiose alte Hotelhalle und widerstand der Versuchung, jeder Frau, die sie sah, einen zweiten Blick zu schenken und zu hoffen, dass sich Libby durch ein aufmunterndes Nicken oder ein anderes Signal zu erkennen geben würde. Sie suchte den riesigen Eingangsbereich nach einem abgetrennten Sitzbereich ab, der nicht belegt war, und fand schließlich einen in der Nähe der großen Treppe.
Sie ging durch die belebte Lobby hinüber. Auf halbem Weg entdeckte sie im Augenwinkel eine andere Person, die sich ebenfalls durch die vielen Menschen in diese Richtung bewegte. Kroll blickte zu ihr herüber und schien erahnt zu haben, wohin sie gehen wollte.
Sie kamen gleichzeitig an. Er beugte sich vor, um sie mit einem höflichen Kuss zu begrüßen, aber sie zuckte zurück.
Sie nahm auf dem kleinen Sofa so Platz, dass er sich nicht neben sie setzen konnte. Also zog er sich einen Sessel heran.
» Was willst du?«, fragte sie sofort.
Er warf ihr einen verwirrten Blick zu. » Was ist los, Elise?«
Sie betrachtete ihn schweigend. In ihrer Brust spürte sie Enge, ausgelöst durch gegensätzlichste Emotionen, die sich so schnell abwechselten, dass sie kaum noch verstand, was sie eigentlich fühlte.
» Nachdem wir dieses Gespräch beendet haben, sind wir miteinander fertig«, sagte sie. » Ich möchte dich nie wieder sehen. Nie wieder.« Sie war von ihren eigenen Worten erstaunt. Herrgott! Aber sie konnte im wahrsten Sinne des Wortes nicht anders.
Kroll
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