Der Seelenleser
einfiel, reichte ihm aus, um den Raum gefahrlos zu durchqueren.
Eine über zwei Meter hohe antike Standuhr ragte neben der hinteren Tür auf, doch ihr Pendel rührte sich nicht. Der Aufsatz der Uhr war von einem Kranz umgeben, und dahinter versteckt lag eine schwarze halbautomatische Pistole vom Typ CZ -75. Sie lag dort schon seit fast zwei Monaten bereit.
Kroll nahm die CZ mit und ging aus dem Wohnzimmer durch die weite Eingangshalle zu der breiten Treppe, die ins Hochparterre führte. Seine nassen Schuhe machten auf dem dicken Läufer kein Geräusch, als er die Stufen hochschlich. Seine latexumhüllten Finger umklammerten die CZ , als wäre die Waffe an seiner Hand angeklebt. Er durchquerte das Zwischengeschoss zu einer anderen Treppenflucht, die ihn in das dritte Stockwerk brachte.
Elise verbrachte den größten Teil ihrer Zeit in einer Suite in der Nordostecke des Hauses, von wo aus sie die ganze Bucht überblicken konnte.
Er hielt im kleinen Foyer vor ihrer Suite inne und lauschte an der Tür. Nichts zu hören. Hinter der Tür kam das Wohnzimmer; er musste darauf vorbereitet sein, sie dort zu überraschen. Er drehte am Türknauf, merkte, dass die Tür nicht abgeschlossen war, und drückte sie schnell auf.
Elise zuckte zusammen. Sie hatte die Hände hinter dem Kopf, weil er sie in dem Moment überrascht hatte, als sie gerade ihre Haare im Nacken zu einem Zopf zusammenfassen wollte. Sie erstarrte. Sie trug nur ein smaragdgrünes Nachthemd, und ein frisch gemixter Drink stand auf dem Kaffeetischchen vor ihr. Er bemerkte, dass ihre Augen die Latexhandschuhe und die Pistole entdeckt hatten.
» Ray!«
Elises Ausruf ließ Lore zusammenzucken. Sie war nackt, saß, die Unterhose bis zu den Knien heruntergeschoben, auf der Toilette. Das von Elise ausgeliehene Chemisenkleid lag in Griffnähe auf einem kleinen Tisch.
Sie hörte die Stimme eines Mannes, tief, moduliert. Gemütlich.
Dann war wieder Elises erhobene Stimme zu hören, aber Lore konnte nichts verstehen. Die Tür des Badezimmers war geschlossen, und es lag außerdem noch das ganze Ankleidezimmer zwischen ihnen.
Zitternd stand sie auf. Sie vergaß, dass ihre Unterhose immer noch auf Höhe ihrer Knie saß, und kam ins Stolpern. Sie konnte sich gerade noch an der Rückenlehne eines Stuhls festhalten, der beinahe umkippte. Verdammt! Sie zog die Unterhose hoch, griff nach dem Hemdkleid auf dem Tischchen und streifte es sich über den Kopf.
Sie kroch zur Tür des Badezimmers und legte das Ohr an das Holz.
» Eine Pistole, Ray?« Elises Stimme war übernatürlich laut.
Lores Gedanken gerieten ins Schlingern. Es war wirklich Kroll!
Falls sie die Tür öffnete, würde der weite Durchgang auf beiden Seiten des Ankleidezimmers das nicht verbergen, und Kroll würde sie sehen können.
Ihr Mobiltelefon lag im Schlafzimmer.
Das Badezimmer hatte zwar ein Fenster, aber es waren drei Stockwerke bis zum Boden.
» Was ist los, Elise?«, fragte Kroll. » Was sollte, bitte schön, das alles vorhin im Fairmont?«
Sie saß mit durchgedrücktem Rücken auf dem Sofa, die Beine zusammen, die Hände gefaltet und auf den Knien abgelegt. Sie wusste, dass sie ihn völlig ausdruckslos anschaute. Er würde sie töten.
» Ich hatte genug«, sagte sie schließlich. » Ich kann das mit dir nicht mehr machen. Es ist krank, und es macht mich krank.«
» Kannst das nicht mehr machen? Was meinst du damit?«
Sie musterte ihn. » Ich bin mir nicht mehr sicher, Ray. Bezüglich dessen, was du tust.«
Kroll stand immer noch an der Tür, die er hinter sich geschlossen hatte. Jetzt ging er weiter in den Raum hinein und auf sie zu. Er hielt die Pistole immer noch in der rechten Hand, ließ sie aber an der Seite nach unten hängen. Er nahm mit der linken Hand ihren Drink und nippte daran.
Elise fand die Chirurgenhandschuhe erschreckender als die Waffe. Sie waren schaurig, makaber. Sie konnte die Haare auf seinem Handrücken sehen, die wirkten, als wären sie im Latex eingeschweißt.
Er stand über ihr und blickte auf sie hinab, während er trank.
» Du hast es nicht herausbekommen, oder?«, sagte Kroll. » Vorhin im Hotel war ich mir nicht sicher.«
Sie blickten einander an, und sie bemerkte, wie seine Augen versuchten, durch ihr Nachthemd ihre Brüste zu erspähen.
Elise fühlte sich nackt. Sie wollte nicht, dass er sie berührte. Wenn er sie schon tötete… Dann nicht das auch noch. » Ich weiß mehr, als du denkst, Ray«, sagte sie fest.
Er blickte sie an und nippte wieder an
Weitere Kostenlose Bücher