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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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verhüllte sie die
Szene. Im Arbeitszimmer fiel sein Blick sofort auf den Computer mit der Brailletastatur.
Obwohl der Strom abgestellt war, befand sich der Rechner im Stand-by-Betrieb.
Er verfügte über eine unterbrechungsfreie Stromversorgung.
    Das hatte etwas zu bedeuten.
    Mithilfe der Sprachausgabe hatten sie sich am Nachmittag den Inhalt
der anonymen Mail angehört, die Pietro Zini erst vor wenigen Tagen erhalten
hatte. Nun war sich Marcus sicher, dass die Nachricht noch weitere
Informationen enthielt und dass der Polizist die Sprachausgabe vorzeitig gestoppt
hatte.
    Deshalb aktivierte Marcus sie erneut, nachdem er die richtige Taste
gefunden hatte. Wieder verlas die kalte, unpersönliche Stimme die
verschlüsselten Worte, deren Sinn er inzwischen kannte: »Er-ist-nicht-so-wie-du … Such-im-Park-Villa-Glori.«
    Diesen Teil kannte er bereits. Und wie erwartet, kam noch etwas
nach: »Der-Jun-ge-hat-dich-an-der-Na-se-he-rum-ge-führt … Bald
wirst-du-Be-such-be-kommen.«
    Der zweite Teil bezog sich auf Federico Noni und kündigte
gleichzeitig Marcus’ Besuch bei Zini an.
    Aber es waren die letzten Zeilen dieses heruntergeleierten Textes,
die ihn zusammenzucken ließen: »Was-ge-we-sen-ist, wird-wie-der-sein … c.g. 925-31-073.«
    Wegen der Prophezeiung – was gewesen ist, wird
wieder sein – , wegen des Aktenzeichens, das
ein weiteres ungesühntes Verbrechen betraf – c.g. 925-31-073 –, vor allem aber wegen der beiden Buchstaben, die diesem Aktenzeichen
vorangestellt waren.
    Culpa gravis.
    Jetzt wusste Marcus Bescheid: Es gibt einen Ort,
an dem das Reich des Lichts auf das der Finsternis trifft. Dort spielt sich
alles ab. Im Reich der Schatten, wo alles schemenhaft, ununterscheidbar,
ungewiss ist. Wir sind die Wächter, die diese Grenze verteidigen. Aber manchmal
mogelt sich jemand an uns vorbei. Dann muss ich ihn in die Finsternis zurückjagen.
    Derjenige, der Opfer und Täter zusammenbrachte, war Pönitenziar,
genau wie er.

EIN JAHR ZUVOR
KIEW
    »Der große Traum war ausgeträumt, als wir unsere Ehre
gegen ein bisschen Wohlstand eingetauscht haben. Wir haben uns mit einer
Hoffnung schlafen gelegt und sind mit einer Nutte aufgewacht, von der wir nicht
einmal den Namen kannten.«
    Mit diesem einen Satz hatte Dr. Norienko die ganze Perestroika, den
Mauerfall, den Zerfall des Sowjetreichs, ja, sogar die neu entstandene
Oligarchie aus Öl- und Gasbaronen zusammengefasst, der Wirtschaft und Politik
nichts mehr entgegensetzen konnten. Mit anderen Worten: zwanzig Jahre Sowjetgeschichte.
    »Schauen Sie doch nur!«, sagte er und zeigte auf die Titelseite des Kharkovsky Kurier : »Alles geht den Bach runter! Und was
sagen die dazu? Gar nichts. Was hat uns die Freiheit also letztlich gebracht?«
    Nikolai Norienko sah seinen Gast lauernd an. Der nickte, zeigte
Interesse, schien seinen Hetztiraden allerdings nicht beizupflichten. Als
Nächstes musterte der Psychologe seine verbundene Hand. »Sie sagten, Sie seien
Amerikaner, Dr. Foster?«
    »Nein, Engländer«, erwiderte der Jäger und versuchte, den Mann von
seiner Wunde abzulenken, die ihm die junge Angelina in der psychiatrischen
Klinik in Mexiko-Stadt beigebracht hatte.
    Das Büro, in dem sie sich gerade aufhielten, lag im zweiten Stock
des staatlichen Zentrums für Kinderheilkunde, das sich im Westen Kiews befand.
Eine Panoramascheibe bot Ausblick auf einen Park mit Birken, deren Blätter sich
schon erstaunlich früh herbstlich verfärbt hatten. Die Einrichtung wurde von
Resopal dominiert: Alles war damit beschichtet – vom Schreibtisch bis hin zu
den Wänden. An einer davon waren noch drei dunkle rechteckige Schatten
sichtbar. Hier hatten einmal die Porträts von Lenin und Stalin, den Vätern des
Vaterlands, sowie das des amtierenden Parteivorsitzenden gehangen. Es roch nach
abgestandenem Rauch, und im Aschenbecher vor Norienko türmten sich die
Zigarettenstummel. Obwohl er die fünfzig gerade erst überschritten hatte,
wirkte er wegen seines ungepflegten Äußeren und des ungesunden Hustens deutlich
älter. Er hatte nicht nur mit einer Erkältung, sondern auch mit Groll und
Demütigungen zu kämpfen. Der leere Bilderrahmen auf einem Tischchen und die
zusammengefalteten Decken am Ende eines Ledersofas ließen auf eine gescheiterte
Ehe schließen. Zu Zeiten des Regimes war er eine Respektsperson gewesen. Jetzt
war er nur noch die traurige Parodie eines Staatsfunktionärs mit dem Gehalt
eines Müllmanns.
    Der Psychologe griff nach dem Blatt mit den

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