Der Seelensammler
gefälschten Referenzen,
das ihm der Jäger gegeben hatte, und überflog sie erneut.
»Hier steht, dass Sie an der Universität Cambridge eine Zeitschrift
für forensische Psychologie herausgeben. Das ist für Ihr Alter sehr
bemerkenswert, Dr. Foster, Kompliment!«
Der Jäger hatte gewusst, dass das sofort Norienkos Interesse wecken
würde. Er wollte dem gekränkten Ego des Psychologen schmeicheln, was ihm auch
zu gelingen schien. Der legte das Blatt zufrieden weg: »Wissen Sie, das ist
schon komisch: Bis zum heutigen Tag war noch niemand hier, um mich zu Dima zu
befragen.«
Dank der Ärztin Florinda Valdés war der Jäger auf Norienko gestoßen.
Die hatte ihm in Mexiko-Stadt einen Artikel gezeigt, den Norienko 1989 in einer
kleinen Psychologiezeitschrift veröffentlicht hatte. Er handelte von einem
Kind, von Dimitri Karoliszyn, genannt Dima . Vielleicht
hatte der ukrainische Psychologe gehofft, dass der Patient ihm eine neue
Karriere ermöglichen würde, während um ihn herum alles zusammenbrach. Aber dazu
war es nie gekommen, und die Fallgeschichte war mitsamt seinen Hoffnungen und
Ambitionen begraben worden – bis zu diesem Moment.
Jetzt wurde es Zeit, sie wieder auszugraben.
»Sagen Sie, Dr. Norienko, haben Sie Dima persönlich gekannt?«
»Aber natürlich!« Der Psychologe legte die Fingerspitzen zusammen
und schaute scheinbar suchend an die Decke. »Anfangs hat er sich nicht groß von
den anderen Kindern unterschieden. Vielleicht war er etwas schwieriger, vor allem
aber schweigsamer.«
»Wann war das genau?«
»Im Frühjahr 1986. Damals war unser Zentrum das führende Institut in
der ukrainischen Kindererziehung, ja, der gesamten Sowjetunion«, prahlte
Norienko. »Wir haben Waisen eine weltweit einzigartige Zukunft geboten. Wir
haben sie nicht einfach nur beherbergt wie die Waisenhäuser im Westen.«
»Ihre Methoden waren uns ein Vorbild.«
Norienko schluckte das plumpe Kompliment. »Nach Tschernobyl bat uns
die Regierung in Kiew, Kinder aufzunehmen, die ihre Eltern an die
Strahlenkrankheit verloren hatten. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden sie
ebenfalls krank werden. Unsere Aufgabe bestand darin, sie vorübergehend zu
versorgen und nach Verwandten zu suchen, die sich um sie kümmern konnten.«
»Und Dima gehörte auch dazu?«
»Wenn ich mich nicht täusche, kam er ein halbes Jahr nach der
Katastrophe zu uns. Er stammte aus Prypjat. Die Stadt liegt in der Sperrzone um
das Atomkraftwerk und wurde vollständig evakuiert. Er war damals acht Jahre
alt.«
»War er lange bei Ihnen?«
»Einundzwanzig Monate.« Norienko legte eine Pause ein, runzelte die
Stirn, stand dann auf und ging zu einem Aktenschrank. Nach kurzer Suche kehrte
er mit einer beigefarbenen Aktenmappe an seinen Schreibtisch zurück. Er
blätterte langsam darin. »Wie alle Kinder aus Prypjat war Dimitri Karoliszyn
Bettnässer und litt unter extremen Stimmungsschwankungen – eine Folge des
Schocks und der gewaltsamen Evakuierung. Deshalb wurde er von mehreren Psychologen
betreut. Ihnen erzählte er von seiner Familie: von seiner Mutter Anja,
Hausfrau, und von seinem Vater Konstantin, Techniker im Atomkraftwerk. Er beschrieb
ihren gemeinsamen Alltag … Details, die sich im Nachhinein als richtig
erwiesen.« Auf den letzten Satz legte er eine besondere Betonung.
»Und was ist dann passiert?«
Bevor Norienko antwortete, zog er eine Zigarette aus der Packung,
die er in der Brusttasche seines Hemds aufbewahrte, und zündete sie an.
»Dima hatte nur noch einen lebenden Verwandten, den Bruder des
Vaters, Oleg Karoliszyn. Nach einigen Recherchen konnten wir ihn in Kanada ausfindig
machen: Der Mann freute sich, sich um seinen Neffen kümmern zu dürfen. Er
kannte Dima nur von den Fotos, die ihm der Vater des Jungen geschickt hatte.
Als wir ihm ein aktuelles Bild schickten, konnten wir nicht ahnen, was dann
kam. Für uns war das eine reine Formalität.«
»Doch dann behauptete Oleg, das Kind sei nicht sein Neffe.«
»Und trotzdem wusste Dima so einiges über den Onkel, obwohl er ihm
nie begegnet war: Anekdoten aus seiner gemeinsamen Kindheit mit dem Vater. Er
konnte sich auch an die Geschenke erinnern, die ihm sein Onkel jedes Jahr zum Geburtstag
geschickt hatte.«
»Und was haben Sie gedacht?«
»Dass Oleg seine Meinung geändert hat und sich nicht mehr um Dima
kümmern wollte. Aber als er uns die Fotos sandte, die ihm sein Bruder über all
die Jahre geschickt hatte, trauten wir unseren Augen kaum … Wir hatten es eindeutig
mit
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