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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Heizkessel. Schließlich erreichten sie
einen zweiten Saal, der als Abstellraum für alte Möbel genutzt wurde: Hier
gammelten Betten und Matratzen vor sich hin. Norienko schlüpfte zwischen ihnen
hindurch und forderte den Kollegen auf, ihm zu folgen.
    »Wir sind gleich da!«, verkündete er.
    Sie bogen um die Ecke und befanden sich in einem engen, stickigen
Abstellraum unter einer Treppe. Dort war es dunkel, aber Norienko erhellte den
Raum mit seinem Taschenfeuerzeug, das er als Raucher stets bei sich trug.
    Im Schein der schwachen Flamme trat sein Gast einen Schritt vor und
konnte kaum fassen, was er da sah.
    Es sah aus wie ein riesiges Insektennest.
    Der Jäger verspürte Ekel, trat jedoch näher und spähte durch das
dichte Netz aus kleinen Holzstückchen. Sie waren durch bunte Stofffetzen,
Seile, Klammern und Reißzwecken miteinander verbunden und mithilfe von
eingeweichtem Zeitungspapier zusammengekittet. Eine äußerst akribische Bastelarbeit.
    Und das Versteck eines Kindes.
    Der Jäger hatte ebenfalls Verstecke gebaut, als er noch klein
gewesen war. Aber das hier war etwas ganz anderes.
    »Das Stofftier befand sich dort drin«, sagte Norienko und sah, wie
sich sein Gast zu dem schmalen Eingangsloch vorbeugte und etwas auf dem Boden
berührte. Er stellte sich hinter ihn und sah, wie dieser einen Kranz aus
dunklen Flecken untersuchte.
    Für den Jäger war das eine unglaubliche Offenbarung.
    Getrocknetes Blut. Die gleichen Spuren hatte er auch im Haus von
Jean Duez in Paris gefunden.
    Der falsche Dima war der Verwandlungskünstler!
    Aber er durfte sich seine Aufregung auf keinen Fall anmerken lassen,
deshalb fragte er ausweichend: »Haben Sie irgendeine Erklärung für diese
Flecken hier?«
    »Ehrlich gesagt, nein …«
    »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich eine Probe nehme?«
    »Nein, nicht im Geringsten.«
    »Ich würde auch gern das Stoffkaninchen mitnehmen. Vielleicht stammt
es aus der Vergangenheit des falschen Dima.«
    Norienko zögerte: Er versuchte herauszufinden, ob sich der Kollege
tatsächlich so sehr für seinen Fall interessierte. Wahrscheinlich wäre das
seine letzte Chance, zur alten Größe zurückzufinden.
    »Ich gehe davon aus, dass die Sache nach wie vor von
wissenschaftlichem Interesse ist. Man sollte ihr unbedingt nachgehen«, fügte
der Jäger noch hinzu, um ihn zu überzeugen.
    Bei diesen Worten glomm in den Augen des Psychologen eine naive
Hoffnung auf, aber auch so etwas wie ein stummer Hilfeschrei: »Was sagen Sie
dazu: Wir könnten einen neuen Artikel schreiben, vielleicht sogar als
Autorenteam?«
    Norienko konnte ja nicht ahnen, dass er wohl den Rest seines Lebens
in diesem Zentrum zubringen würde.
    Der Jäger drehte sich um und lächelte. »Aber natürlich, Dr.
Norienko. Ich werde noch heute Abend nach England zurückkehren und Ihnen meine
Notizen so bald wie möglich zukommen lassen.«
    In Wahrheit hatte er etwas ganz anderes vor: Er würde dorthin
reisen, wo alles begonnen hatte. Nach Prypjat, um Dimas Spuren zu folgen.

ZWEI TAGE ZUVOR
    6 Uhr 33
    Der Tote sagte: »Nein.«
    Dieser Ausruf blieb im Grenzbereich zwischen Träumen und Wachen.
Marcus kam aus der Vergangenheit, hatte es aber geschafft, in die Gegenwart zu
gelangen, bevor sich das Tor zwischen den beiden Welten schloss und er erneut
wach war.
    Er hatte laut und bestimmt gerufen, aber auch voller Angst,
schließlich stand er einer Pistolenmündung gegenüber. Dabei wusste er ganz
genau, dass der Schrei ihm nichts nützen würde. Er hatte nur getan, was alle
taten, die von einer Waffe bedroht wurden. Nein! – dieses Wort war die letzte,
vergebliche Barriere gegen das Unvermeidliche. Die flehentliche Bitte eines
Menschen, der wusste, dass es keinen Ausweg mehr gab.
    Marcus griff nicht sofort zu dem Stift, mit dem er Teile seines
Traums an die Wand neben seinem Feldbett schrieb. Denn was er diesmal gesehen
hatte, würde er nie mehr vergessen.
    Er hatte den Mann ohne Gesicht, der auf ihn und Devok geschossen
hatte, klar vor Augen gehabt. In seinen früheren Träumen war er nur ein
Schatten gewesen, eine nebulöse Gestalt, die sich auflöste, sobald er sie
ansah. Doch jetzt wusste er etwas Wichtiges über seinen Mörder: Er hatte die
Hand gesehen, mit der er die Pistole hielt.
    Er war Linkshänder. Das war ein
Hoffnungsschimmer: Vielleicht konnte sich Marcus an diesem ausgestreckten Arm
entlanghangeln und eines Tages dem Mann in die Augen sehen, der ihn dazu
verdammt hatte, nach seiner verlorenen Identität zu suchen.
    Er

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