Der Seelensammler
die Taschenlampe nach unten und sah wenige Zentimeter über
dem Boden etwas glänzen.
Es war ein gespanntes Nylonseil, das nur die Katzen im Dunkeln
wahrnehmen konnten. Marcus konnte sich dieses Hindernis nicht erklären. Er
stieg darüber hinweg und betrat das Zimmer.
Der Wind tobte ums Haus und erzeugte eine Art Sog. Die Taschenlampe
erhellte das Arbeitszimmer und verjagte die Schatten, die sich unter die Möbel
zurückzogen. Alle bis auf einen.
Aber das war gar kein Schatten, sondern ein auf dem Boden liegender
Mann mit einer Schere in der Hand und einer im Hals. Mit einer Wange lag er in
einer dunklen Blutlache. Marcus beugte sich über Federico Noni, der ihn mit leerem
Blick ansah und den Mund zu einer schiefen Grimasse verzerrt hatte. Da begriff
er, was sich hier tatsächlich abgespielt hatte.
Zini – ein Mann des Gesetzes – hatte die Rache gewählt.
Es war der Blinde gewesen, der Marcus mit der Polizistin
zusammengebracht hatte. Während sie im Museum der Seelen im
Fegefeuer gewesen waren, hatte er einen Plan ausgearbeitet: Er hatte
Federico Noni angerufen und ihm gesagt, dass er die Wahrheit wisse. Doch
eigentlich war das eine Einladung gewesen, und Noni war darauf hereingefallen.
In Erwartung seines Besuchs hatte Zini den Hindernisparcours
aufgebaut und das Nylonseil gespannt. Indem er den Strom abstellte, sorgte er
für gleiche Ausgangsbedingungen: Keiner von beiden würde den anderen sehen
können.
Der Polizist hatte sich verhalten wie eine Raubkatze. Und Federico
war die Maus, die er fangen wollte.
Zini war größer und außerdem geschickter im Dunkeln. Er kannte seine
Umgebung, wusste, wie er sich bewegen musste. Am Ende hatte er es geschafft,
den Sieg davonzutragen. Nachdem er Noni mit der Schnur zu Fall gebracht hatte,
hatte er ihn mit der Schere erstochen. Eine Vergeltungsaktion.
Ja, eine Hinrichtung.
Marcus konnte sich nicht vom Anblick der Leiche losreißen. Wieder
hatte er einen Fehler begangen. Wieder war er es gewesen, der das letzte
Mosaiksteinchen für eine Vergeltungsaktion geliefert hatte.
Er wollte gerade gehen, als ihm auffiel, dass sich die Katzen um die
Terrassentür zum Gemüsegarten geschart hatten. Da draußen war etwas!
Marcus riss die Tür auf, und Wind füllte das Zimmer. Die Tiere
versammelten sich um den Liegestuhl, auf dem Pietro Zini saß – genau wie
damals, als er ihm das erste Mal begegnet war.
Marcus richtete die Taschenlampe auf seine leblosen Augen. Er trug
keine Sonnenbrille und machte einen resignierten Eindruck. Eine Hand lag auf
seinem Schoß und hielt noch die Pistole in der Hand, mit der er sich in den
Mund geschossen hatte.
Eigentlich hätte Marcus sich über Zini ärgern müssen. Im Grunde war
er von ihm benutzt, vor allem jedoch auf eine falsche Fährte gelockt worden.
Dieser Junge, Federico Noni, hat bereits genug
gelitten. Seit Jahren kann er seine Beine nicht mehr benutzen – ausgerechnet er, ein ehemaliger Leistungssportler! Und dann wurde
auch noch seine Schwester brutal ermordet, mehr oder weniger direkt vor seinen
Augen. Kannst du dir das auch nur ansatzweise vorstellen? Überleg doch mal, wie
machtlos er sich gefühlt haben muss! Wer weiß, welche Schuldgefühle ihn quälen,
obwohl er doch gar nichts getan hat.
Der Polizist hätte Federico Noni anzeigen, die Wahrheit ans Licht
bringen und dafür sorgen müssen, dass ein unschuldig in Regina Coeli
einsitzender Häftling entlassen wird. Aber Zini war überzeugt, dass Nicola
Costa bei seiner Verhaftung kurz davor gestanden hatte, eine Gewalttat zu
begehen: Er war nicht nur ein Trittbrettfahrer, sondern ein gefährlicher
Psychopath. Die Aufmerksamkeit, die er nach seiner Festnahme bekommen hatte,
schmeichelte ihm, dämpfte aber auch seinen Trieb. In ihm steckten mehrere
Persönlichkeiten. Die narzisstische hätte die blutrünstige nicht mehr lange in
Schach gehalten.
Außerdem war es für Zini auch eine Frage der Ehre: Federico Noni
hatte ihn an der Nase herumgeführt, seine Schwäche ausgenutzt. Aufgrund seiner
bevorstehenden Erblindung hatte der Polizist Mitleid mit dem jungen Mann
gehabt. Und genau das hatte ihn in die Irre geführt. Dabei lautet die oberste
Regel für jeden Polizisten: Misstraue jedem!
Darüber hinaus hatte Federico ein ganz besonders abscheuliches
Verbrechen begangen: Er hatte die eigene Schwester ermordet. Dieser junge Mann
schreckte vor nichts zurück. Und deshalb hatte er es in Zinis Augen verdient zu
sterben.
Marcus schloss die Terrassentür: Wie ein Vorhang
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