Der Seelensammler
»Weil ihn jemand wegen seiner
Rechercheergebnisse umgebracht hat, während ich noch am Leben bin.«
Das war nicht einfach eine respektlose Bemerkung über ihren Mann:
Sandra musste zugeben, dass Schalber die Wahrheit sagte. Und sie konnte sie
durchaus akzeptieren, ja, mehr noch, sie hatte sogar ein schlechtes Gewissen:
Dass dieser schöne Abend Spannungen zwischen ihnen abgebaut hatte, war allein
Schalbers Verdienst. Er hatte ihr nicht nur sehr private Dinge anvertraut,
sondern auch alle ihre Fragen beantwortet, ohne eine Gegenleistung zu
verlangen. Während sie ihn belogen und ihm ihr Treffen mit dem Pönitenziar
verschwiegen hatte.
»Warum hast du mich nicht gefragt, wieso es so lange gedauert hat,
bis ich von Zini zurückgekommen bin?«
»Wie bereits gesagt: Ich mag keine Lügen.«
»Hattest du Angst, ich könnte dir nicht die Wahrheit sagen?«
»Fragen sind eine Steilvorlage für Lügner. Hättest du mir etwas zu
sagen gehabt, hättest du es mir längst gesagt. Ich mag es nicht, etwas zu
erzwingen. Mir ist lieber, du vertraust mir.«
Sandra wich seinem Blick aus. Sie ging zur Spüle und drehte den Hahn
auf, damit das Wasserrauschen die Stille unterbrach. Kurz war sie versucht, ihm
alles zu sagen. Schalber stand mehrere Meter hinter ihr. Während sie den
Abwasch machte, spürte sie, wie er sich näherte. Er hüllte sie in seinen
schützenden Schatten ein. Dann berührte er ihre Hüften und lehnte sich an ihren
Rücken. Sandra ließ ihn gewähren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie
hätte am liebsten die Augen geschlossen. Aber wenn ich das tue, ist es mit meiner
Beherrschung vorbei!, dachte sie. Sie hatte Angst, fand aber nicht die Kraft,
ihn zurückzuweisen. Er beugte sich über sie, hob die Haare in ihrem Nacken. Sie
spürte seinen Atem auf ihrer Haut und legte instinktiv den Kopf zurück, um sich
seiner Umarmung hinzugeben. Ihre Hände verharrten unter dem Wasserstrahl. Unwillkürlich
ging sie auf die Zehenspitzen. Die Lider gaben nach. Mit geschlossenen Augen
und Gänsehaut beugte sie sich zu ihm und suchte nach seinen Lippen.
In den letzten fünf Monaten hatte sie von Erinnerungen gelebt.
Jetzt vergaß Sandra zum ersten Mal, dass sie Witwe war.
23 Uhr 24
Die Haustür stand offen und klapperte im Wind. Das war
kein gutes Zeichen!
Marcus nahm sich die Zeit, Latexhandschuhe überzustreifen, und stieß
die Tür auf. Zinis Katzen begrüßten den neuen Gast. Marcus verstand, warum der
blinde Polizist sich ausgerechnet mit Katzen umgeben hatte: Sie konnten wie er
in völliger Dunkelheit leben.
Marcus sperrte den Sturm aus. Nach dem lauten Tosen rechnete er mit
Stille. Stattdessen hörte er ein elektronisches Signal, schrill und in
regelmäßigen Abständen, und das ganz in seiner Nähe.
Er ging dem Ton nach. Nach wenigen Schritten entdeckte er ein
schnurloses Telefon neben dem Kühlschrank, von dem das Signal kam. Es meldete
sich, weil der Akku fast leer war.
Dasselbe Telefon hatte vergeblich geklingelt, als er Zini von
Federico Noni aus angerufen hatte. Aber nicht deshalb war der Akku leer: Jemand
hatte den Strom abgestellt.
Doch was brachte es Figaro, einem Blinden das Licht abzudrehen?
»Zini!«, rief Marcus, bekam aber keine Antwort.
Also ging er in den Flur, der zu weiteren Zimmern führte. Er musste
zur Taschenlampe greifen, um sich zurechtzufinden. Als er sie eingeschaltet
hatte, sah er, dass einige Möbel den Weg verstellten, so als hätte sie jemand
als Barrikade benutzt.
Hatte es eine Verfolgungsjagd gegeben?
Marcus versuchte, die Situation zu rekonstruieren. In seiner
Blindheit hatte Pietro Zini plötzlich klargesehen: Die anonyme Mail hatte ihn
auf die richtige Spur gebracht – vielleicht hatte sie auch nur einen alten
Verdacht erhärtet.
Er ist nicht so wie du.
Die Leiche im Park Villa Glori hatte ihm den Beweis geliefert. Und
deshalb hatte er Federico Noni angerufen. Vielleicht hatte es eine
Auseinandersetzung gegeben, und der Polizist hatte Figaro gedroht, ihn
anzuzeigen.
Aber warum hatte er es dann nicht getan und ihm stattdessen Zeit
gegeben, ihn umzubringen?
In diesem Haus hatte Zini versucht zu fliehen. Anscheinend hatte er
gegen den ehemaligen Spitzensportler Federico, der, anders als er selbst, sehen
konnte, keine Chance gehabt.
Denn dass hier jemand ums Leben gekommen war, stand für Marcus fest.
Die Katzen liefen vor ihm ins Arbeitszimmer. Er wollte es gerade
betreten, als er bemerkte, dass die Tiere beim Hineingehen einen kleinen Sprung
machten. Er richtete
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