Der Seelensammler
Phantombilder
dazugestellt, die zeigten, wie sie sich im Lauf der Zeit entwickelt haben
könnten. Doch die Hoffnung, dass diese Kinder noch lebten, war äußerst gering.
Ihr Foto auf dieser Webseite war oft nur der Ersatz für einen Grabstein – eine
Art, ihrer zu gedenken.
Marcus und Clemente gingen nach dem Ausschlussprinzip vor und
konzentrierten sich auf Minderjährige, die vor drei Jahren aus Rom verschwunden
waren. Davon gab es genau zwei: ein Junge und ein Mädchen. Sie lasen sich die
dazugehörigen Profile durch.
Filippo Rocca war nach der Schule spurlos verschwunden. Seine Freunde
hatten nichts bemerkt. Er war damals zwölf Jahre alt und lachte fröhlich in die
Kamera. Dabei zeigte sich, dass ihm ein Schneidezahn fehlte. Er trug die
Kitteluniform einer kirchlichen Schule, darunter Jeans, einen orangefarbenen
Pulli, ein hellblaues Polohemd und Turnschuhe. Seinen Ranzen zierten
Pfadfinder-Anstecknadeln und ein Abzeichen seiner Lieblingsfußballmannschaft.
Alice Martini war zehn Jahre alt, hatte lange blonde Zöpfe und trug
eine rosafarbene Brille. Sie war verschwunden, als sie mit ihrem Vater, ihrer
Mutter und ihrem kleinen Bruder einen Vergnügungspark besucht hatte. Sie trug
ein weißes Sweatshirt mit Bugs-Bunny-Motiv, eine kurze Hose und
Segeltuchschuhe. Ein Luftballonverkäufer hatte sie zuletzt in der Nähe der Toilettenhäuschen
gesehen, wo sie sich mit einem Mann mittleren Alters unterhielt. Aber er hatte
nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen und der Polizei keine genauere
Beschreibung liefern können.
Marcus recherchierte weiter. Er ging auf die Seiten von
Tageszeitungen, die damals über die beiden Vermisstenfälle berichtet hatten.
Sowohl Filippos als auch Alices Eltern hatten an die Öffentlichkeit appelliert.
Sie waren in Talkshows aufgetreten und hatten Interviews gegeben, um das
Interesse an dem Fall wachzuhalten. Aber die Ermittlungen waren in beiden
Fällen im Sande verlaufen.
»Glaubst du, eines dieser Kinder ist das, wonach wir suchen?«,
fragte Clemente.
»Gut möglich. Mir wäre allerdings lieber, es käme nur eines infrage.
Uns läuft die Zeit davon! Bisher hat der Pönitenziar alles so kalkuliert, dass
jeden Tag ein Racheakt verübt wurde: Zuerst findet die Schwester eines der
Opfer den sterbenden Jeremiah Smith und erfährt so die Wahrheit. Am Abend
darauf tötet Raffale Altieri seinen Vater, der zwanzig Jahre zuvor den Mord an
seiner Mutter in Auftrag gegeben hat. Gestern hat Pietro Zini Federico Noni umgebracht – einen Serientäter, der seine eigene Schwester ermordet hat, um sie zum
Schweigen zu bringen, und anschließend noch ein Mädchen, das er im Park Villa
Glori vergrub. Ist dir aufgefallen, wie genau der Pönitenziar in den letzten
beiden Fällen die Zeit vorgegeben hat? Er hat uns jedes Mal nur wenige Stunden
gegeben, um die Kettenreaktion zu begreifen, die er in Gang gesetzt hat, und
ihr Einhalt zu gebieten. Und diesmal wird es nicht anders sein. Deshalb müssen
wir uns beeilen: Noch heute Abend wird jemand versuchen, Astor Goyash zu
töten.«
»Es wird nicht leicht sein, an Goyash heranzukommen. Du hast die
Gorillas gesehen, die für ihn arbeiten. Ohne Leibwächter geht der nie aus dem
Haus.«
»Wie dem auch sei, ich brauche deine Hilfe, Clemente!«
»Ich soll dir helfen?«, fragte der andere erstaunt.
»Ich kann mich nur um die Familie eines der verschwundenen Kinder
kümmern. Du musst die des anderen übernehmen. Wir benutzen den Anrufbeantworter,
um uns zu verständigen: Sobald einer von uns etwas Auffälliges entdeckt,
spricht er dem anderen eine Nachricht auf.«
»Was soll ich tun?«
»Such die Martinis, ich kümmere mich um die Eltern von Filippo
Rocca.«
Ettore und Camilla Rocco wohnten in Ostia, in einem Bungalow,
der direkt auf den Strand hinausging. Es war ein schönes Haus, das von
Ersparnissen finanziert worden war.
Die Roccos waren eine »ganz normale Familie«.
Schon oft hatte Marcus versucht zu verstehen, was das eigentlich
bedeutete. Es war ein Begriff, der viele kleine Träume und lang gehegte
Erwartungen umfasste. Sie bildeten einen Schutzpanzer gegen die Widrigkeiten
des Lebens und waren gleichzeitig ein Glücksversprechen. Manche Menschen
wollten einfach nur in Ruhe und Frieden leben, sich treu bleiben. Das war ihr
Pakt mit dem Schicksal, den sie Tag für Tag erneuerten.
Ettore Rocca war Handelsvertreter und als solcher häufig unterwegs.
Seine Frau Camilla war Sozialarbeiterin bei einer Familienberatungsstelle. Sie verausgabte
sich
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