Der Seelensammler
Leck entdecken können, das den penetranten Geruch
erklärte. Sie kehrte in das kleine Bad zurück, machte das Licht an und sah sich
um. Sie kontrollierte den Abfluss von Dusche und Waschbecken, betätigte noch
einmal die Toilettenspülung. Alles schien tadellos zu funktionieren.
Sie beugte sich vor, da der Geruch vom Boden aufzusteigen schien.
Aufmerksam musterte sie die Mosaikfliesen unter ihren Füßen und entdeckte, dass
eine am Rand angeschlagen war, so als wäre sie mit etwas hochgestemmt worden.
Sandra sah sich um, griff zu der Schere auf der Konsole und steckte sie in den
Spalt. Zu ihrer Überraschung gelang es ihr, ein Stück Boden anzuheben. Sie
legte es beiseite und betrachtete, was es verbarg.
Unter ihr befand sich eine Falltür, die jemand offen gelassen hatte.
Die modrige Luft kam von dort. Steinstufen führten zu einem
unterirdischen Tunnel hinab. Doch das genügte nicht, um zu beweisen, dass
Jeremiah durch diesen Tunnel verschwunden war. Sie brauchte eine endgültige
Bestätigung, und um sich diese zu beschaffen, gab es nur eine Möglichkeit.
Sandra nahm all ihren Mut zusammen und stieg hinab.
Am Fuß der Treppe zog sie ihr Handy aus der Tasche und beleuchtete
damit beide Seiten des Tunnels. Von rechts schien ein Luftzug zu kommen, und
sie meinte, ein dumpfes Dröhnen zu hören.
Sie lief los und achtete sorgfältig darauf, wohin sie trat. Der
Boden war rutschig, und wenn sie stürzte, konnte sie sich ernsthaft verletzen.
Hier wird mich ganz bestimmt niemand suchen!, dachte sie, um diese Möglichkeit
weit von sich zu weisen.
Nachdem sie etwa zwanzig Meter zurückgelegt hatte, nahm sie einen
Lichtschein wahr, der einen Ausgang ankündigte. Der führte direkt auf den Tiber
hinaus. Der Fluss war wegen der vielen Niederschläge stark angestiegen. Das brackige
Wasser riss alles Mögliche mit sich. Hier kam sie nicht weiter, ein
Metallgitter versperrte ihr den Weg. Zu kompliziert für Jeremiah!, dachte
Sandra. Also musste sie in die Gegenrichtung gehen. Mithilfe des Lichts aus
ihrem Handy kehrte sie um und ging an der Steintreppe vorbei, die in Laras Bad
führte. Schon bald stellte sie fest, dass sich der Tunnel in einem regelrechten
Tunnellabyrinth verlor.
Sandra sah nach, ob sie Empfang hatte, und rief auf dem Präsidium
an. Nach wenigen Minuten verband man sie mit Commissario Camusso.
»Ich bin in der Wohnung der Studentin. Es ist genau so, wie ich es
befürchtet habe: Jeremiah hat sie entführt.«
»Welchen Beweis haben Sie dafür?«
»Ich habe den Fluchtweg gefunden: Es gibt eine versteckte Falltür im
Bad.«
»Diesmal ist unser Monster mit besonderer Umsicht vorgegangen«,
sagte der Polizist fast schon lobend. Aber da Sandra nichts darauf erwiderte,
ahnte er, dass sie ihm noch nicht alles gesagt hatte: »Und sonst?«
»Lara ist schwanger.«
Camusso schwieg. Sandra wusste, was jetzt in ihm vorging. Die
Verantwortung wuchs: Nun mussten zwei Opfer gerettet werden.
»Hören Sie, Commissario: Bitte schicken Sie sofort jemanden vorbei.«
»Ich komme selbst«, verkündete der Mann. »Mitsamt Verstärkung.«
Sandra beendete das Telefonat und wollte gerade den Rückweg
antreten. Wie auf dem Hinweg beleuchtete sie mit dem Handy den rutschigen
Boden. Wahrscheinlich war sie vorher zu sehr in Gedanken gewesen und hatte die
zweite Fußspur deshalb nicht bemerkt.
Hier unten war jemand bei ihr!
Wer auch immer das war, versteckte sich jetzt in dem Tunnelstück vor
ihr. Sandra war wie gelähmt vor Angst. In der kalten Tunnelluft bildete ihr
Atem dichte Wolken. Sie griff zur Pistole, als sie merkte, dass sie selbst eine
ideale Zielscheibe abgab, falls ihr Verfolger bewaffnet war.
Mit Sicherheit ist er bewaffnet!, dachte Sandra. Es wird der Schütze
aus der Kirche sein!
Sie konnte sich umdrehen und auf die Steintreppe zurennen. Oder aufs
Geratewohl in die Dunkelheit schießen, um dem anderen zuvorzukommen. Doch
beides war hochgefährlich. Inzwischen spürte sie auch den hypnotischen Sog
eines Augenpaars, meinte, einen vollkommen leeren Blick zu fühlen. Als sie die
Stimme des Mörders gehört hatte, die Cheek to Cheek sang, hatte sie genau das Gleiche empfunden.
Das war das Ende.
»Frau Vega, sind Sie hier unten?«, ertönte da eine Stimme hinter
ihr.
»Ja, ich bin hier!«, schrie Sandra schrill. Es war die Angst, die
ihre Stimme kippen, ja, fast lächerlich klingen ließ.
»Ich bin eine Kollegin: Wir waren ganz in der Nähe auf Streife,
Commissario Camusso schickt uns.«
»Bitte holen Sie mich
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