Der Seelensammler
Manschettenknöpfe trug. Sie musste unwillkürlich grinsen.
»Und Sie sind wirklich sicher, dass Lara schwanger ist?«
Sie hatten das Thema bereits im Restaurant angeschnitten. Camusso
wollte nicht zugestehen, dass Frauen einen sechsten Sinn für derartige Dinge
hatten. Und das, obwohl sie eindeutige Beweise für ihre These präsentieren
konnte.
»Warum bezweifeln Sie das?«
Camusso zuckte mit den Schultern. »Wir haben Freunde und
Kommilitonen vernommen: Keiner wusste etwas von einem Freund oder Liebhaber.
Und weder die Einzelverbindungsnachweise ihres Telefonanschlusses noch ihre
E-Mails lassen darauf schließen, dass sie eine Beziehung hatte.«
»Man muss keine Beziehung haben, um schwanger zu werden.«
Sie sagte es, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Dabei
verstand sie die Vorbehalte des Commissario: Lara schien nicht der Typ für eine
lockere Affäre zu sein. »Aber es gibt da eine Sache in Bezug auf Jeremiah
Smith, die ich mir nicht erklären kann: Vor Lara hat er seine Opfer immer
tagsüber geködert, sie auf ein Getränk eingeladen. Wie kam es, dass sie sich
mit einem Typen wie ihm abgegeben haben?«
»Ich ermittle nun schon seit sechs Jahren gegen diesen Serienmörder
und weiß es auch nicht. Welche Taktik auch immer er angewendet hat: Sie muss
verdammt effektiv gewesen sein!«, sagte Camusso kopfschüttelnd. »Es war immer
das Gleiche: Ein Mädchen verschwindet, und wir setzen alles daran, sie zu
finden – wohl wissend, dass wir nur einen Monat Zeit haben. Dreißig Tage lang
machen wir den Familien, der Presse und der Öffentlichkeit etwas vor. Immer die
gleichen Sprüche, die gleichen Lügen. Ist die Zeit abgelaufen, finden wir die
Leiche.« Er machte eine lange Pause. »Als ich neulich am Abend erfuhr, dass
dieser Typ der Täter ist, habe ich aufgeatmet. Ich war glücklich. Und wissen
Sie, warum?«
»Nein.«
»Ich war glücklich drüber, dass ein Mensch im Sterben lag. Meine
Güte, was ist nur mit dir los?, habe ich anschließend gedacht. Es ist
furchtbar, was dieser Mann mit uns angestellt hat. Er hat dafür gesorgt, dass
wir so werden wie er. Denn nur ein Monster freut sich über den Tod eines anderen
Menschen. Ich habe versucht mir einzureden, dass sein Tod weitere Opfer
verhindert, also Leben rettet. Aber was ist mit uns? Wer hat uns vor der Freude
gerettet, die wir empfunden haben?«
»Wollen Sie etwa behaupten, dass Sie die Nachricht von einem
weiteren Opfer unter diesem Gesichtspunkt fast schon tröstlich fanden?«
»Wenn Lara noch lebt, ja.« Camusso lächelte verbittert. »Aber auch
das ist ziemlich monströs, finden Sie nicht?«
»Allerdings«, pflichtete ihm Sandra bei. »Vor allem, wenn man
bedenkt, dass ihre Rettung vielleicht davon abhängt, ob Jeremiah Smith noch
einmal aus dem Koma erwacht.«
»Dieser Mann wird vielleicht bis an sein Lebensende wie eine Pflanze
dahinvegetieren.«
»Was sagen die Ärzte?«
»Die werden nicht richtig schlau aus dem Fall. Anfangs gingen sie
von einem normalen Herzinfarkt aus, aber weiter gehende Untersuchungen konnten
das ausschließen. Jetzt suchen sie nach einem neurologischen Schaden, haben
aber noch nichts gefunden.«
»Es könnte Gift gewesen sein.«
Camusso gab zu, dass Smiths Blut gerade daraufhin untersucht wurde.
»Aber wenn das zutreffen sollte, ist noch jemand in die Sache
verwickelt: Jemand, der versucht hat, Jeremiah Smith umzubringen.«
»Oder ihn von der Schwester eines seiner Opfer umbringen zu lassen …«
Sandra fiel der Figaro-Fall wieder ein: Der Mord an Federico Noni
hatte etwas mit dem, was Jeremiah Smith zugestoßen war, gemeinsam: Beide waren
für ihre Verbrechen bestraft worden. Oder für ihre Sünden, dachte sie insgeheim.
»Warten Sie einen Moment, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Sandra war in Gedanken und begriff nicht, wovon der Commissario
sprach.
Camusso holte einen Laptop, schaltete ihn ein und stellte ihn vor
sie hin. »Eine Woche vor Laras Verschwinden gab es an der Fakultät für
Architektur eine Examensfeier. Der Vater des frischgebackenen Architekten hat
alles mit seiner Videokamera aufgenommen.« Der Commissario startete ein Video.
»Das sind die letzten Bilder von Lara, bevor sie sich in Luft aufgelöst hat.«
Sandra beugte sich vor. Die Aufnahme war verwackelt. Stimmengewirr,
Gelächter. Die Kamera fing eine Aula ein. Etwa dreißig Gäste waren anwesend,
einige hatten sich alberne Luftschlangen umgehängt. Sie standen in kleinen
Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Auf dem
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