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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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und musterte dabei verstohlen
Clementes Gesicht im Spiegel. »Vielleicht hast du recht, das habe ich mir auch
schon gedacht. Zum Glück bist du zur Klinik gekommen: Hättest du mich nicht
aufgelesen, hätten mich die beiden Gorillas umgebracht.«
    Als er das sagte, schaute sein Freund zu Boden.
    »Du behältst mich generell im Auge, stimmt’s?«
    »Wie kommst du denn darauf?« Clemente brauste auf, doch seine
Entrüstung wirkte gespielt.
    Marcus glaubte ihm kein Wort, drehte sich um und sah ihm direkt in
die Augen. »Was geht hier vor? Was verheimlichst du mir?«
    »Nichts.«
    Clemente war eindeutig in der Defensive, und Marcus überlegte, warum
das so war. »Don Michele Fuente leitet die Beichte des zukünftigen
Selbstmörders Alberto Canestrari weiter, lässt den Namen des Beichtenden
allerdings auf die Bitte des Bischofs hin weg. Was wollt ihr hier geheim halten?
Wer in der Kirchenhierarchie will diese Sache vertuschen?«
    Clemente blieb stumm.
    »Wusst’ ich’s doch!«, sagte Marcus. »Das verbindende Element
zwischen Canestrari und Astor Goyash ist Geld, nicht wahr?«
    »Der Chirurg machte nicht gerade den Eindruck, in Geldnöten zu
sein«, wandte der andere wenig überzeugend ein.
    Marcus spürte, dass Clemente in Erklärungsnot war. »Das Wichtigste
für den Arzt war sein Ruf. Er hielt sich für einen guten Menschen.«
    Clemente begriff, dass er ihm nicht länger etwas vormachen konnte.
»Canestrari hat in Angola eine großartige Klinik gebaut, deren Existenz wir
nicht gefährden wollen.«
    Marcus nickte. »Mit welchem Geld hat er das getan? Mit dem von
Goyash, stimmt’s?«
    »Das wissen wir nicht.«
    »Aber wahrscheinlich war es so.« Marcus war außer sich vor Wut. »Das
Leben eines Kindes im Tausch gegen Tausende von geretteten Leben.«
    Clemente hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Sein Schüler hatte
alles herausgefunden.
    »Also entscheiden wir uns für das kleinere Übel. Aber wenn wir das
tun, folgen wir der Logik des Chirurgen, der diesen schändlichen Pakt
eingegangen ist.«
    »Diese Logik hat uns nicht zu interessieren. Aber das Leben
Tausender Menschen sehr wohl.«
    »Und was ist mit dem Kind? War sein Leben gar nichts wert?« Marcus
musste eine Pause einlegen, um sich zu beherrschen. »Und der Gott, in dessen
Namen wir handeln? Was sagt der wohl dazu?« Dann sah er Clemente an: »Irgendjemand
wird dieses einzigartige Leben rächen, wie es der geheimnisvolle Pönitenziar
vorgesehen hat. Wir können tatenlos zusehen oder versuchen, etwas dagegen zu
unternehmen. Entscheiden wir uns für Ersteres, machen wir uns der Beihilfe zum
Mord schuldig.«
    Clemente wusste, dass Marcus recht hatte, trotzdem zögerte er. Nach
einer Weile beendete er das Schweigen. »Wenn Astor Goyash glaubt, Canestraris
Praxis noch drei Jahre nach dessen Selbstmord beschatten zu müssen, dann nur,
weil er Angst hat, dass sein Name in die Sache hineingezogen wird«, gab er zu,
um dann hinzuzufügen: »Es gibt also ein Beweisstück, das ihn mit dem Mord in
Verbindung bringt.«
    Marcus lächelte: Der Freund hatte sich auf seine Seite geschlagen
und würde ihn nicht im Stich lassen. »Wir müssen herausfinden, wer das tote
Kind war«, sagte er schnell. »Und ich weiß auch schon, wie wir das anstellen
können.«
    Sie gingen ins Nebenzimmer, wo der Computer stand. Nachdem
sie sich ins Internet eingewählt hatten, rief Marcus die Seite der Polizei auf.
    »Wo willst du suchen?«, fragte Clemente hinter ihm.
    »Der geheimnisvolle Pönitenziar bietet die Möglichkeit zur Rache.
Also gehen wir mal davon aus, dass das junge Opfer aus Rom stammt.«
    Er klickte die Seite mit den Vermisstenanzeigen an und scrollte dort
zu den Minderjährigen. Gesichter von Kindern und Teenagern tauchten auf, und es
waren bedrückend viele. Erfahrungsgemäß steckten in vielen Fällen
Sorgerechtsstreitigkeiten dahinter, und die Kinder waren von einem Elternteil
entführt worden. Dann lag die Lösung auf der Hand, und ihr Name würde bald
wieder von dieser Liste verschwinden. Genauso oft handelte es sich um
jugendliche Ausreißer. Eine solche Angelegenheit endete meist nach wenigen
Tagen mit einer Familienzusammenführung und einer Standpauke. Aber einige
Minderjährige waren schon seit Jahren veschwunden und würden so lange auf
dieser Liste bleiben, bis sich herausstellte, was ihnen zugestoßen war. Sie
lächelten auf verschwommenen oder sehr alten Fotos, und ihre Blicke kündeten
von geraubter Unschuld. In einigen Fällen hatte die Polizei

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