Der Seelensammler
Leben ist das Einzige, was gegen den Schmerz hilft, dachte
Marcus. Jetzt begriff er, was die Roccas dazu veranlasst hatte, sich die
Zukunft zurückzuerobern, sie dem Dickicht aus Zweifeln zu entreißen. Doch das
reichte nicht, ihn zu überzeugen: Würde diese Familie ihr wiedergefundenes
Glück aufs Spiel setzen, nur um Vergeltung zu üben? Wie würde sie auf die
Nachricht reagieren, dass ihr Erstgeborener tot war? Vorausgesetzt, Filippo war
tatsächlich Canestraris Opfer.
Marcus wollte das Haus gerade verlassen und Camilla Rocca bei ihrer
Beratungsstelle abpassen, um sie für den Rest des Tages zu beschatten, als er
Motorenlärm hörte. Er schob den Vorhang beiseite und sah einen Kleinwagen, der
soeben in der Einfahrt gehalten hatte. Darin saß die Sozialarbeiterin.
Da es zu spät für ihn war, das Haus noch zu verlassen, suchte er
fieberhaft nach einem Versteck. Er fand ein Zimmer, das als Bügel- und Abstellraum
diente, stellte sich hinter die Tür und wartete. Er hörte den Schlüssel im
Schloss. Camilla, die das Haus betrat und die Tür hinter sich zuzog. Das
Klirren, als sie den Schlüsselbund ablegte. Absätze, die über den Boden
klapperten. Die Frau zog die Schuhe aus und ließ einen nach dem anderen fallen.
Marcus beobachtete sie durch den Türspalt. Sie lief barfuß und hatte mehrere
Papiertüten bei sich. Sie war einkaufen gewesen und früher als sonst nach Hause
gekommen. Aber ihren Sohn oder ihre Tochter hatte sie nicht dabei. Sie betrat
den Bügelraum, um ein neues Kleid aufzuhängen. Nur eine Tür trennte sie voneinander,
eine dünne Holzschicht. Hätte die Frau dahintergeschaut, hätte sie ihm ins
Gesicht gesehen. Aber das tat sie nicht, sie ging ins Bad und schloss sich dort
ein.
Marcus hörte die Dusche rauschen und verließ sein Versteck. Er ging
an der verschlossenen Tür vorbei und sah, dass im Wohnzimmer ein Geschenk auf
dem Tisch lag.
Irgendwie hatte das Leben in diesem Haus noch einmal von vorn
begonnen.
Doch diese Vorstellung erschütterte ihn mehr, als dass sie ihm Mut
machte. Plötzlich wurde er von Angst und Panik überwältigt. »Clemente!«,
murmelte er, als ihm klar wurde, dass die Familie, nach der sie suchten,
wahrscheinlich seinem Freund zugefallen war.
Da Camilla Rocca unter der Dusche stand, griff er zum Telefon an der
Küchenwand und wählte die Nummer des Anrufbeantworters. Clemente hatte eine
Botschaft für ihn hinterlassen. Er klang aufgeregt.
»Du musst sofort kommen: Alice Martinis Vater packt die Koffer und
lädt sie in seinen Wagen. Ich fürchte, dass er die Stadt verlässt. Und da ist
noch etwas: Der Mann hat eine illegale Pistole in seinem Besitz.«
17 Uhr 14
Sandra hatte ihren Kollegen nichts von der unheimlichen Begegnung
im Tunnel unter Laras Haus erzählt, auch nicht Commissario Camusso. Das hat
nichts mit dem Mädchen zu tun!, hatte sie sich eingeredet. Das geht nur David
und mich etwas an.
Außerdem hatte sie keine Angst mehr. Sie hatte verstanden, dass ihr
Verfolger ein übergeordnetes Ziel verfolgte. Er wollte sie nicht töten,
zumindest noch nicht. In diesem Tunnel hätte er es längst tun können, noch
bevor sie zum Telefon gegriffen hatte. Aber er hatte die Gelegenheit nicht nur
ungenutzt verstreichen lassen, sondern bewusst lange dort ausgeharrt.
Er überwachte sie.
Camusso war jedoch nicht entgangen, dass etwas nicht stimmte. Er
hatte sie tief verstört vorgefunden, aber Sandra hatte Hunger und Erschöpfung
vorgeschoben. Deshalb hatte der dandyhafte Commissario sie in eine typisch
römische Trattoria namens »Da Francesco« an der Piazza del Fico eingeladen.
Dort hatten sie im Freien eine Pizza gegessen und die Gerüche und Geräusche des
Viertels genossen – mitten im römischen Gassengewirr mit seinen verwitterten
Fassaden und dem Efeu, das ungerührt Balkon um Balkon eroberte.
Anschließend waren sie sofort wieder zum Präsidium gefahren. Camusso
hatte ihr alles gezeigt, und der Palazzo, in dem er arbeiten durfte, war wirklich
wunderschön. Sandra hatte ihm nicht gesagt, dass sie ihn bereits kannte, weil
sie unerlaubt im Archiv recherchiert hatte.
Sie nahmen im Büro des Commissario Platz. Auch hier war die Decke
freskengeschmückt, doch der Einrichtung war der exzentrische Geschmack des
Mannes nicht anzusehen. Anders als Camusso, der wie ein Farbfleck durchs Zimmer
wirbelte, war sie äußerst nüchtern und minimalistisch gehalten. Als er sein
purpurfarbenes Jackett über den Schreibtischsessel hängte, sah Sandra, dass er
türkisfarbene
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